Was ist die multiethnische Arbeiter*innenklasse?

30.10.2018, Lesezeit 9 Min.
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Unter dem Motto „Unteilbar: Solidarität statt Diskriminierung, für eine offene und freie Gesellschaft“ füllten eine Viertelmillion Menschen Anfang Oktober die Straßen Berlins. Es war der bisherige Höhepunkt einer Protestphase gegen den rasch zunehmenden Rechtsruck. Die Großdemonstrationen in Bayern gegen die extreme Sicherheits- und Spaltungspolitik der CSU-Regierung haben offensichtlich bundesweit viele zur Solidarität ermutigt.

Die bürgerlichen Politiker*innen behaupten gerne, der Rechtsruck sei in der Gesellschaft verankert, wenn wieder einmal rassistische Gesetze und Abschiebungen gerechtfertigt werden sollen. Mobilisierungen wie „Unteilbar“ zeigen aber, dass die These der „Ängste und Sorgen“ der Bevölkerung vor Migration so pauschal nicht wahr ist. Im Gegenteil steigt nach und nach die Bereitschaft, gegen Nazis und die Regierung gemeinsam zu protestieren. Tatsächlich ist der Rechtsruck in den Regierungsämtern und Sicherheitsapparaten – wie am deutlichsten der Fall Maaßen zeigte – viel weiter fortgeschritten und kann dort bestens gedeihen.

Warum ist es nicht so leicht möglich, die Bevölkerung zu „faschisieren“, wie es viele behaupten? Weil die Arbeiter*innenklasse selbst längst multiethnisch ist und ihre fortschrittlichsten Teile sich gegen Angriffe auch wehren. Besonders, aber nicht nur, in den Städten sind die Ethnien miteinander verschmolzen: in Kolleg*innenkreisen, familiär, unter Mitschüler*innen und Studierenden. Ein klar abgrenzbares „deutsches Volk“, das biologisch ohnehin immer eine Wahnvorstellung der Rechten war, existiert selbst nach Maßstäben von Herkunft, Hautfarbe, Sprache, Religion nicht mehr. Die AfD hetzt gegen etwas, das längst Realität ist – die ethnische Vermischung der Gesellschaft. Und dennoch ist die rassistische Spaltung der Rechten und der Regierung überall dort erfolgreich, wo die multiethnische Arbeiter*innenklasse nicht bewusst als solche auftritt, sondern von der morschen Sozialpartnerschaft erzwungen still hält.

Wenn wir von der multiethnischen Arbeiter*innenklasse als unserer Klasse sprechen, für deren Interessen wir kämpfen, dann meinen wir damit die Lohnabhängigen aller Geschlechter (worauf wir mit dem „*innen“ hinweisen), Ethnien, Religionen und sexueller Orientierungen. Als lohnabhängige Klasse wird sie vom Kapital ausgebeutet, gleich in welcher Branche ihre Mitglieder arbeiten, und steht ihm dem objektiven Interesse nach gegenüber. Deshalb sind die oftmals chauvinistischen Aussagen einiger Linkspartei-Leute wie Sahra Wagenknecht Unsinn, ob man sich zuerst um „die Arbeiter“ oder zuerst um demokratische Fragen der Unterdrückung kümmern solle. Denn die demokratischen Fragen betreffen in ihrer überwiegenden Mehrheit die multiethnische Arbeiter*innenklasse und nur sie selbst kann sie auch lösen.

Umso krasser stellen sich die Angriffe von Regierung und Rechtsradikalen dar, die unserer multiethnischen Klasse zurzeit entgegenschlagen. Nach der Demonstration von AfD und Neonazis in Chemnitz wurde darüber diskutiert, wie weit man Migrant*innen jagen darf, bevor es eine Hetzjagd wird – der „Fall Maaßen“. Viele fühlten sich an Anfang der 1990er Jahre erinnert, als in Ost und West migrantische Unterkünfte angezündet und nicht „deutsch genug“ aussehende Menschen auf offener Straße ermordet wurden. Und auch dazwischen war nie Ruhe: Der faschistische NSU tötete in Kollaboration mit dem Verfassungsschutz und mit zugedrücktem Auge der Polizei. Schuld an den „Dönermorden“ sollten wieder die Ausländer*innen haben. Der Fall Oury Jalloh, in dem ein Schwarzer Mann 2005 in Dessau von der Polizei in Haft getötet wurde, bleibt weiter ungestraft und ein Symbol der systematischen Gewalt gegen Nicht-Weiße. In jedem dieser Morde schwingt eine Warnung an diejenigen mit, die nicht weiß sind, keinen deutschen Pass haben, Vorfahren mit einem anderen Pass haben, muslimisch sind: „Das hättest du sein können.“ Und die zurzeit häufigste Form dieser gewaltsamen Drohung, die vom Staat kommt, ist die ständige Abschiebung von Menschen in Kriegsgebiete.

Es muss aber nicht immer gleich Mord sein im „christlichen Abendland“, auf dessen „Leitkultur“ das sogenannte Bayerische Integrationsgesetz seine Bürger*innen seit 2016 verpflichtet. Darin werden migrantischen und besonders geflüchteten Kindern weitere Zugangsbeschränkungen zu Schulen auferlegt und ihre Eltern unter Generalverdacht gestellt, die glorreiche „Rechts- und Werteordnung“ des bayerischen Paradieses nicht zu teilen. Mit dem Polizeiaufgabengesetz und dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz dieses Jahres vertiefen sich rassistische Polizeikontrollen und willkürliche Festsetzungen Geflüchteter im Freistaat. Der staatlich diktierte Rassismus ist keineswegs auf den konservativen Freistaat begrenzt: Thilo Sarrazins Angst, dass Deutschland sich „abschafft“, durchzieht die Diskurse der gesamten Bundesrepublik. Gegen diese Abschaffung des deutschen Deutschlands hilft anscheinend nur eine Kombination aus Gewalt und Disziplinargesetzen: „Die sollen billig arbeiten und die Klappe halten, sonst setzt es was“, ist die Botschaft von oben.

Maaßen und Sarrazin, zwei Seiten einer Medaille

Beides gehört zusammen, die Gewalt und die Ausgrenzung, Maaßen und Sarrazin, beides macht ohne das andere keinen Sinn. 19,3 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, die Hälfte davon hat einen deutschen Pass. Das heißt, knapp ein Viertel der hier lebenden Bevölkerung darf sich der rassistischen Terminologie zufolge nicht als „Volk“ zählen, dem Blut und Boden nach, und hat keine Vertretung im Regime der Bundesrepublik. Wenn es aber in den staatlichen und rechten Diskursen um den nichtdeutschen Teil Deutschlands geht, dann geht es nicht um Nachbar*innen und Kolleg*innen, sondern um Gefahren oder Humanitäres. Die systematische Nicht-Beteiligung des migrantischen Teils der deutschen Bevölkerung hat eine lange Tradition in der Bundesrepublik, ohne die die heutige Qualität des Rechtsrucks und die Spaltung der lohnabhängigen Klasse, von der viele AfD wählen, nicht verstanden werden kann.

Die größte Migration ins heutige Deutschland fand bisher im Rahmen der Anwerbung von Gastarbeiter*innen seit 1955 statt. Dieser Prozess prägt die Funktionsweise des Staats und der Zivilgesellschaft bis heute. Die Arbeiter*innen kamen vor allem aus ärmeren südeuropäischen Ländern und aus Halbkolonien wie der Türkei – und wurden hier als Angehörige dieser Länder besonders unterdrückt. Zugleich haben die von migrantischen Beschäftigten ausgelösten Streikwellen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre zu den tiefsten Brüchen mit der Gewerkschaftsbürokratie in der Geschichte der BRD geführt. Denn anders als das Interesse der Gewerkschaftsmitglieder liegt das Interesse der Bürokratie der Gewerkschaften zuerst in der Aufrechterhaltung der Sozialpartnerschaft und ihrer eigenen Existenz als Verhandlerin zwischen Kapital und Arbeit anstatt im Klassenkampf. Deshalb verhinderten Bürokratien immer wieder die Solidarisierung von Deutschen und Migrant*innen, zum Beispiel im gewaltsam zerschlagenen Ford-Streik gegen Entlassung der türkischen Arbeiter*innen in Köln 1973.

Die Gastarbeiter*innen erhielten in den Gewerkschaften und Betriebsräten außerdem eine sehr geringe Vertretung, die bis heute anhält. Die spezifischen Fragen der Gastarbeiter*innen, Fragen der Unterdrückung und besonderen Ausbeutung, wurden nicht ins Programm der Sozialpartnerschaft aufgenommen. Arbeitsmarkt-Gesetze, wie die Maxime „Deutsche zuerst“, die heute gegen Geflüchtete von den Bürokratien der Gewerkschaften mitgetragen werden, galten auch schon gegen die Gastarbeiter*innen.

Wir sehen eine Kontinuität in der rassistischen Politik des deutschen Staates nach innen gegen den migrantischen Teil unserer Klasse und nach außen im Imperialismus gegen wirtschaftlich schwache Länder. Angesichts dessen versuchen wir einen Dialog anzustoßen: Bauen wir eine multiethnische Organisierung unserer Klasse auf! Das bedeutet perspektivisch insbesondere den Aufbau einer antikapitalistischen und antibürokratischen Strömung in den Organisationen unserer Klasse, den Gewerkschaften.

Nicht humanitäres Subjekt, sondern Anführerin

Wir begreifen die multiethnische Arbeiter*innenklasse als Anführerin aller Unterdrückten, der Deklassierten und der Mittelschichten gegen das Kapital. Außerdem ist unsere multiethnische Klasse ein Subjekt im Kampf gegen den Imperialismus, der für Geflüchtete und Menschen unter schlechten Lebensbedingungen die Migration erzwingt und das deutsche Kapital stark macht. Die nötigen demokratischen Forderungen auf Gleichstellung beschränken sich zwar nicht auf die Arbeiter*innenklasse, betreffen sie aber aufgrund ihrer Lebensumstände besonders.

Wir halten den Humanitarismus als politisches Programm für eine Bremse. Denn die humanitäre Argumentation der Menschenrechte basiert hauptsächlich auf moralischen Appellen an den kapitalistischen Staat und an philantropische Kapitalist*innen, die die Migration zum Ausbeuten gern haben. Auf diese Einheit mit den Bossen und den bürgerlichen Parteien, denen der bürgerliche Staat gehört und deren Interessen unserer Klasse gegenüberstehen, können wir uns nicht verlassen. Mehr noch: Innerhalb des Kapitalismus ist die vollständige Einlösung der Menschenrechte eine Utopie.

Die multiethnische Arbeiter*innenklasse braucht dagegen in erster Linie eine strategische Orientierung, die sich nicht in einer Forderung nach Integration oder Inklusion erschöpft, sondern auf die Überwindung dieses Staates abzielt. Denn kein Teil des Proletariats wird im kapitalistischen Staat vertreten. Die demokratischen Rechte der Migrant*innen und Menschen mit Migrationshintergrund müssen mit proletarischen Kampfformen verbunden werden, besonders mit dem Streik. Sie können mit bürgerlichen Mitteln der Institutionalisierung und mit NGOs, die den Staat nur stabilisieren sollen, nicht erreicht werden. Unsere Kampfformen brauchen stattdessen einen Übergangscharakter, der die Klasse Richtung Souveränität (politische Unabhängigkeit) von der Bourgeoisie und ihrem Staat führt. Kurz, für uns heißt die Definition der multiethnischen Arbeiter*innenklasse, dass ihre unterdrückten Teile aktiv von der Arbeiter*innenbewegung repräsentiert und mit ihren spezifischen Forderungen in ihre Reihen aufgenommen werden müssen, um die Unterdrückten unabhängig vom Kapital und seinem Staat anzuführen.

Eine besondere Rolle spielt die migrantische Jugend, die bei den Mobilisierungen gegen den Rechtsruck als Avantgarde auffällt und für ein Programm der multiethnischen Arbeiter*innenklasse gewonnen werden muss, um  zur Einheit der Klasse und zur Bildung einer revolutionären multiethnischen Arbeiter*innenpartei beizutragen. Auch spielen die migrantischen proletarischen Frauen eine besondere Rolle, die seit Beginn der Anwerbeverträge und in ihrer Stellung zur Produktionsgesellschaft eine neue strategische Qualität innerhalb der Arbeiter*innenklasse erreicht haben und außerdem zusätzliche Unterdrückungsformen und schwerere Ausbeutung erfahren, die die Klasse zusätzlich spalten. Die Arbeit in Deutschland ist migrantisiert und feminisiert – vor allem die schlechte prekäre Arbeit. Lasst uns diese Stellung in der Arbeitsgesellschaft nutzen und Schulter an Schulter kämpfen!

Dieser Beitrag erscheint am 26. Oktober in der zweiten Ausgabe der Zeitung marxistische jugend, erhältlich in München (majumuc [at] gmail.com).

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