Streiks, die den Streikenden gehören: Vom Erwachen der Basis in Frankreich

21.02.2020, Lesezeit 7 Min.
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Auf Einladung der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO) hielt Tristan, streikender Lehrer aus Frankreich, einen Vortrag in München. Wir dokumentieren seine Berichte über die Aktionsstrategien der größten Streiks in Frankreich seit zehn Jahren und die Bedeutung von Koordinierungskomitees der Basis.

Die Streikbewegung vom Winter 2019/2020 – die von der Rentenreform ausgelöst wurde und an der sich der Pariser Nahverkehr, die Eisenbahn und der Bildungssektor beteiligten – ist die größte, die Frankreich in den letzten zehn Jahren erlebt hat. Sie findet statt nach der Gelbwestenbewegung. Für uns geht es in dieser Bewegung um das Erwachen der Basis und den Kampf um die Hegemonie der Arbeiter*innenklasse. Diese Themen möchte ich im Folgenden vertiefen, mit Beispielen aus den Streiks und einigen Videos aus Frankreich.

Frankreich geht der Weltruf voraus, dass seine Arbeiter*innen viel streiken. Aber was wir im Dezember 2019 und im Januar 2020 erlebt haben, hat wenig zu tun mit dem, was in den letzten 20 Jahren in Frankreich geschehen ist. Die jetzige Bewegung brachte Streiksektoren in einen lang anhaltenden Streik. Viele naive Betrachtungen gehen davon aus, die Führung der Gewerkschaften hätte für diesen langanhaltenden Charakter des Streiks die Verantwortung. Doch in Wirklichkeit haben Vollversammlungen und eine Aktionsstrategie die Arbeiter*innen bis zu 60 Tage im Streik gehalten, obwohl es von den Gewerkschaften kein Streikgeld gab.

Die RATP-SNCF-Koordinierung als Motor des langanhaltenden Streiks

Für die Analyse ist es wichtig, das Erwachen der Basis zu verstehen. In vielen Sektoren gehörte der Streik tatsächlich den Streikenden. Das beste Beispiel dafür ist die Koordinierung der Arbeiter*innen bei RATP (Pariser öffentlicher Personennahverkehr) und SNCF (Eisenbahn). Diese Koordinierung der Streikenden hat von Anfang an das Tempo der Mobilisierung vorgegeben. Die Koordinierungsstruktur war nicht von den Gewerkschaftsführungen geleitet, sondern von Vertreter*innen lokaler Vollversammlungen.

Es war möglich, für diese Koordinierung schon vor dem Streik viele Beschäftigte beider Firmen von der Strategie des langanhaltenden Streiks zu überzeugen. Während des Streiks konnte die Koordinierung das Fortbestehen des Streiks sichern: Als reformistische Gewerkschaftsführungen Ende Dezember zum Streikende aufriefen, ging der Streik weiter. Letztlich hatten die Führungen weniger repräsentativen Einfluss als die RATP-SNCF-Koordinierung.

Es ist auch richtig, vom Erwachen der Basis zu sprechen, wenn man sich ansieht, wie in Paris die „Intersyndical“-Gewerkschaftsblöcke während der Demo nur aus Bürokrat*innen bestanden – während die große Mehrheit der Blöcke vor den Demo-Ordner*innen der Gewerkschaften demonstrierte. Dieser Kopf der Streikdemonstrationen, der aus der Basis bestand und nicht aus der Bürokratie, umfasste bis zu zwei Drittel der Demos. Hier im Video ist dieser Kopf der Demo zu sehen:

Das Erwachen der Basis und die Hegemonie der Arbeiter*innen beeinflussten den Alltag des Streiks enorm. Viele Aktionsstrategien wurden auf lokaler und auf nationaler Ebene von selbstorganisierten Streikenden entwickelt und verbreitet. Zum Beispiel waren Busdepots strategische Orte. Es war von Anfang an für die Erfüllung der Streikstrategie wichtig, dass die Busse in Paris und in den Vororten nicht fahren, weil sie die U- und S-Bahn-Streiks gebrochen hätten. Auch wurden hier die meisten Praktikant*innen als Streikbrecher*innen eingesetzt. Es war also wichtig, dass Streikende anderer Sektoren morgens an den Busdepots standen und den Streik der Busfahrer*innen unterstützten. Sehr wichtig war bei dieser Unterstützung von außen die Methode der Busdepots-Blockade. Dieses Video dokumentiert eine der ersten Blockaden:

Sehr schnell breiteten sich diese Methoden auf andere Busdepots aus, luden Streikende anderer Sektoren zu Blockaden ein. Später während der Mobilisierungen wurden auch an Depots ganz anderer Orte in Frankreich Blockaden organisiert. Das kam unter anderem durch die Verbreitung der Streikstrategien mit sozialen Medien und der Website Révolution Permanente. Möglich wurde die aktive Solidarität durch Selbstorganisierung – es steht nicht im Programm der französischen Gewerkschaften, dass Streikende anderer Sektoren aktiv an Streikposten beteiligt werden. Außerdem wurden in Solidarität Streikkassen organisiert, für die in Aktionen wie dieser in der U-Bahn geworben wurde:

Einfluss der Gelbwesten auf die Streiks und sektorale Ausweitung

Interessant an der Streikbewegung dieses Winters ist, dass diese Bewegung die Kombination von Mobilisierungen aus dem Jahr 2019 ist. Die führenden Sektoren des jetzigen Streiks, die RATP, die SNCF und der Bildungssektor, hatten schon zuvor im Jahr 2019 kleinere, aber radikale Streiks organisiert: Bei den Gymnasiallehrer*innen gab es einen Abi-Streik, sie gaben aus Protest gegen die Abiturreform ihre Noten nicht ab. Bei der RATP gab es einen Streiktag mit sehr hoher Beteiligung im September. Und im Oktober sowie November legten Arbeiter*innen im TGV-Schnellzug-Wartungsdienst Teile des Netzwerks lahm. Diese Art der selbstorganisierten Radikalität ist direkt beeinflusst von der Gelbwestenbewegung, in der einige der Beschäftigten aktiv waren und deren Radikalität sie in ihre Betriebe trugen.

Selbst wenn der Streik bei SNCF und RATP jetzt zu Ende ist, so ist es immer möglich, die aktive Solidarität am Leben zu halten. In den letzten Wochen wurden viele Gymnasien wegen der Abiturreform von den Schüler*innen blockiert. Schulblockaden gibt es in Frankreich schon seit langem. Neu ist aber, dass sie nun von den Schüler*innen und Lehrer*innen gleichzeitig organisiert werden und daran auch Arbeiter*innen der RATP und SNCF teilnehmen. Sie sichern die Blockade, sodass die Polizei nicht durchbricht. Auch hier sieht man klar, wie die Streikstrategie von Selbstorganisierung diese Mobilisierung prägt. Dabei hilft es sehr, von praktischen Situationen berichten zu können, sodass die Methoden der Streiksolidarität zur Norm werden. In der Organisation bei den Streiks der RATP wurde auch besonders die Stellung der Arbeiterinnen und der Frauen betont, wie in diesem Video von „Du Pain et des Roses“ (Brot und Rosen Frankreich):

Auch im Energie-Sektor gibt es radikale Gewerkschafter*innen, die von der RATP-SNCF-Koordinierung begeistert waren. Die Streiks waren auch eine Art „Reality Check“ für Lehrer*innen: Sie hat uns klar gemacht, dass im Bildungssektor viel mehr Politik zu machen ist, dass dieser Sektor mehr als zuvor zu radikalen und langanhaltenden Auseinandersetzungen bereit ist. Die Verbindung mehrerer Sektoren ist sehr wichtig, damit die Avantgardes bei den nächsten Auseinandersetzungen nicht allein stehen, sondern gemeinsam mit starken Verbündeten.

Schließlich möchte ich noch etwas über die Repression gegen die Streikmobilisierung sagen. Wir haben mehr und mehr mit der Polizei zu tun, die in der letzten Zeit sehr gewalttätig geworden ist. Zum Beispiel wurden Motorrad-Einheiten gegen Streikdemonstrationen eingesetzt. Nach einer Woche Blockade der Busdepots in Paris wurden jeden Tag zehn bis 50 Polizist*innen gegen den Streikposten eingesetzt, um die Blockade zu brechen, oft nachdem die Tore schon einige Stunden blockiert waren. Manchmal kam es während der Polizeirepression dazu, dass Busfahrer*innen – die nicht Teil des Streiks waren! – sich wegen der Polizeigewalt weigerten, ihre Busse zu fahren. Außerdem gingen über die sozialen Medien und Révolution Permanente die Bilder der Repression durch das ganze Land. Als Aktivist*innen festgenommen wurden, gab es Solidarität und Demos vor den Polizeiquartieren, die Freilassung wurde dort und in den sozialen Medien gefordert. Solche Methoden machten es möglich, dass nun in ganz Frankreich über die Polizeigewalt diskutiert wird.

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