Sexualität & Sozialismus

16.10.2015, Lesezeit 8 Min.
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// INTERVIEW: Sherry Wolf spricht über die Auswirkungen der Stonewall Riots, LGBT*-Rechte in der frühen Sowjetunion und den Zustand der LGBT*-Bewegung heute. Sherry Wolf lebt in New York und ist Aktivistin, Redakteurin der International Socialist Review und Autorin des Buches „Sexuality and Socialism: History, Politics, and Theory of LGBT Liberation“. //

[…] Du beschreibst in deinem Buch, wie wenig bekannt die emanzipatorischen Errungenschaften der russischen Revolution von 1917 in Bezug auf LGBT*-Rechte sind. Kannst du uns etwas darüber erzählen, wie die Bolschewiki mit LGBT*-Menschen umgingen?

Das ist eine überwältigende Geschichte, über die es sehr viel zu erzählen gäbe. Es ist nicht so, dass die Bolschewiki absolut aufgeklärt in Bezug auf Fragen von Geschlecht oder Sexualität gewesen wären. Es wäre falsch, das zu behaupten. Aber sie haben sich mit der Idee der Befreiung des Menschen beschäftigt und sie waren gegen jede Art von Unterdrückung. Wenn man von diesen Standpunkten ausgeht, eröffnen sich sehr viele andere Themen und Gespräche. Die Ideologie, die die Partei der Bolschewiki vorantrieb, schuf eine Methodologie, die es erlaubt, sich allen möglichen menschlichen Fragen anzunähern.

Sie haben zum Beispiel Homosexualität entkriminalisiert – Jahrzehnte, bevor das im Rest der Welt stattfand. Besonders beeindruckend ist, dass die ersten bekannten Operationen zur Geschlechtsangleichung in der Sowjetunion stattfanden – auch wenn ich mir nicht vorstellen möchte, wie sie aussahen, angesichts des Stands der Medizin zu der Zeit. Frauen dienten auch in der Roten Armee, und zwar offen als Frauen. Und Trans-Männer dienten in der Roten Armee als Männer, weil sie Männer waren, nicht weil sie sich verstecken mussten.

[…] Wenn man sich mit dieser Geschichte beschäftigt, fragt man sich, was alles möglich gewesen wäre, wenn die Träume der Revolution nicht Ende der 20er durch den Aufstieg des Stalinismus zerstört worden wären, der zu einer kompletten Umkehr dieser Politik führte. […]

Heute ist der emblematische Moment für die LGBT*-Befreiung aber nicht die Machteroberung durch die Bolschewiki, sondern die Stonewall Riots von 1969 in New York. Warum war Stonewall so wichtig in den USA und in der Welt?

Der Zeitpunkt, zu dem Stonewall passierte, war wichtig. Es fand damals ein Zusammenfließen der Frauen-, der Anti-Kriegs- und der Black-Power-Bewegungen statt. Es gab Massenmobilisierungen und sogar einen Anstieg von Arbeitskämpfen und eine Radikalisierung von Arbeiter*innen, vor allem von schwarzen Arbeiter*innen im Automobilsektor. Kurze Zeit später traten die Postarbeiter*innen in einen landesweiten Massenstreik.

Man muss daran denken, dass Stonewall nicht das erste Mal war, das ein solcher Aufstand stattfand. […] Wir erinnern uns nicht wegen seiner Dauer an Stonewall. Wir erinnern uns daran, weil mehr Menschen als je zuvor involviert waren. Die Black Panthers schickten Leute. Die Young Lords, eine Latino-Version der Black Panthers, und die gesamte US-amerikanische Linke, die eine Seele hatte, schickten Leute zu den Straßenschlachten. Die Nicht-Stalinist*innen und sogar Sektoren der stalinistischen Linken kamen, unterstützten und kämpften mit. So viele Leute, die noch nie über Lesben und Schwule – geschweige denn über Bisexuelle oder Trans-Menschen – nachgedacht hatten, kamen zu den Protesten und beteiligten sich an den Kämpfen gegen die Polizei, die Tage dauerten.

Und die Leute haben sich nach diesen Ereignissen organisiert. Anders als nach anderen tagelangen Straßenprotesten, hatte Stonewall bleibende Folgen. Die Gay Liberation Front (GLF) formierte sich innerhalb von 24 bis 48 Stunden nach dem Ende der Riots. Zu der Zeit waren die USA noch im Krieg mit Vietnam. Die Gay Liberation Front leitete ihren Namen von der Nationalen Befreiungsfront Vietnams, gegen die die US-Regierung kämpfte, ab. Allein der Name war also unheimlich provokant und auch das Manifest der GLF war brillant und radikal. Zum ersten Mal versteckten sich Lesben und Schwule im Kampf für ihre Rechte nicht hinter einer Verteidigungshaltung. Vor Stonewall war die Haltung in der Öffentlichkeit: „Bitte, bitte, bitte, tut uns nicht weh“. Nach Stonewall änderte sich das und wurde zu: „Wir sind vollständige menschliche Wesen und ihr werdet uns ab jetzt besser behandeln. Wir haben keine Lust mehr auf euren Scheiß“. […]

Wer organisierte sich in der Gay Liberation Front?

Viele der Menschen, die an den Straßenschlachten teilnahmen, lebten auf der Straße. Sie waren von zuhause rausgeschmissen worden oder weggelaufen, weil sie schwul oder lesbisch waren. Da waren Trans-Menschen, Butch-Lesben – Menschen, die „anders“ waren, Ausgestoßene. […] Viele dieser Leute organisierten sich in der GLF, sie wurden durch die Umstände ihrer eigenen Leben und ihrer Unterdrückung radikalisiert. Es gab auch Menschen aus der Linken, einige aus der trotzkistischen Linken, die Teil der Socialist Workers Party waren, und aus unabhängigen sozialistischen Gruppen, die durch Students for a Democratic Society radikalisiert worden waren. […]

Wie ist die heutige Situation von LGBT*-Menschen in den USA?

Mit dem Abschwung der Radikalisierung und der Tatsache, dass viele radikale Aktivist*innen in die Demokratische Partei gingen und sich anpassten, erreichten wir in den 70ern – zumindest in den USA – einen Wendepunkt. Die Forderungen der Aktivist*innen wurden immer bescheidener. Es scheint etwas paradox, denn es outeten sich immer mehr Menschen. Dadurch wurde es in weiten Kreisen der amerikanischen Gesellschaft immer mehr akzeptiert, schwul oder lesbisch zu sein, sogar in der Geschäftswelt. […]

Das heißt nicht, dass die Unterdrückung von Schwulen, Lesben oder Bisexuellen ein Ende gehabt hätte – von Trans-Menschen gar nicht erst zu reden […]. Ich denke, in dem Maße in dem sich mehr Menschen outeten, hat der Kapitalismus einen Weg entwickelt, mit bestimmten Formen von Homosexualität zu leben – allerdings natürlich nicht mit allen.

Es ist wichtig, das zu beachten. Denn es ist nicht so, als ob der Kapitalismus keine „Teile und Herrsche“-Taktiken mehr brauchen würde. Er braucht immer noch die Unterdrückung von Menschen, die ihr Leben auf eine Weise leben, die vom status quo abweicht. Der Kapitalismus braucht einen status quo und eine Gruppe von Außenseiter*innen, die er auf Grundlage von diesem status quo unterdrücken kann. Er hat aber gezeigt, dass er die Fähigkeit hat, bestimmte Lebensweisen, bestimmte Körper und bestimmte Formen von Sexualität zu integrieren.

Auf ähnliche Weise hat die kapitalistische Gesellschaft Raum für Barack Obama geschaffen, auch wenn immer noch die Titelseiten jeder Zeitung und die Straßen jeder amerikanischen Stadt mit den Körpern schwarzer und brauner Männer und Frauen bedeckt sind, die verprügelt und ermordet werden. Unterdrückung und Anpassung können im Kapitalismus nebeneinander existieren. Das sehen wir auch mit der Homo-Ehe. […] Sie wird das Leben vieler Menschen verändern, aber was bedeutet sie für jemanden, der*die arm ist und der Arbeiter*innenklasse angehört, der*die nicht auf eine bestimmte Art aussieht, nicht eine bestimmte Art von Kleidung trägt, oder nicht in einem bestimmten Viertel lebt. Wir haben immer noch kaum Arbeitsschutzrechte. Und Trans-Menschen haben keine Rechte, überhaupt keine. Es ist auch immer noch in der Hälfte der amerikanischen Bundesstaaten legal, dafür gefeuert zu werden, schwul oder lesbisch zu sein.

[…] Die herrschende Klasse hat für eine Oberschicht alle Möglichen Freiheiten geschaffen, während sie ihre Ideologie der Unterdrückung und die Verweigerung vom materiellen Vorteilen für die überwältigende Mehrheit der LGBT*-Menschen fortsetzt. Beides existiert nebeneinander. Wir leben in wahrhaft widersprüchlichen Zeiten.

Aus Stonewall haben sich auch die Pride Parades entwickelt. Heute sind sie Orte für „pinkes Geld“ und Konzerne. Was ist passiert?

Ich denke es ist wichtig, sich etwas in Erinnerung zu rufen: Auch wenn es in bestimmten Kreisen möglich ist, sich ohne Probleme zu outen, ist es in den USA immer noch oft kontrovers und schwierig. Für diese Menschen sind Pride Parades immer noch ein Ort, wo sie sie selbst sein können und das feiern können. Wir sollten deshalb aufpassen, nicht zynisch zu werden.

Die Präsenz der Konzerne ist dagegen ein Problem für uns Linke. […] Allerdings gibt es auch eine Gegenbewegung. In New York und anderen Städten gab es zum Beispiel einen Block „Queers for Palestinian Liberation“ auf der Pride. […] Im Arbeiter*innenviertel Queens gab es den Block „From Stonewall to Baltimore“, der die Themen LGBT*-Befreiung und „Black Lives Matter“ zusammengebracht hat. So etwas wird es immer häufiger geben und wir bekommen gute Reaktionen.

Zuerst veröffentlicht auf Portugiesisch auf Esquerda Diário

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