Merkel und die ganz normalen Landser: Über die soziale Basis des Bonapartismus

16.10.2018, Lesezeit 25 Min.
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„Treue um Treue“ steht auf dem ausgebrannten Dingo des Karfreitagsgefechts 2010. Von Treue zu Merkel hingegen kann in Militär und Sicherheitsapparaten nicht die Rede sein. Eine Betrachtung zur Reinigung des deutschen Regimes vom inneren und äußeren Pazifismus.

Als Angela Merkel im Herbst 2005 das Kanzleramt übernahm, erbte sie vom Genossen der Bosse zwei große Errungenschaften des deutschen Imperialismus: Erstens, die Agenda 2010 zur Knechtung der Arbeitslosen und damit zur Disziplinierung der gesamten Arbeiter*innenklasse in Deutschland. Zweitens, die ersten experimentellen Kriegseinsätze seit dem Faschismus – mit dem seither unter deutscher Schirmherrschaft kolonisierten Kosovo und dem immerwährenden Krieg in Afghanistan, der die Region Millionen Tote kosten sollte. Den Kahlschlag im Inneren und den sich wieder entwickelnden Hegemonialanspruch im Äußeren von Schröder und Fischer zu verwalten und weiterzuentwickeln, ist seitdem Merkels Aufgabe, was besonders aufgrund der Überschussgewinne aus dem Verhökern der DDR-Industrie sowie der Halbkolonisierung des ebenfalls rekapitalisierten Mittelosteuropas und der Dominanz auf dem EU-Markt gut gelang.

In einem Beitrag über die Weltordnung haben wir ausgeführt, wie sich der Rechtsruck und die Tendenz zur Bonapartisierung, das heißt zu einer sich über die bürgerliche Demokratie und letztlich im Interesse des Kapitals zeitweise über die Klassen erhebenden Führerfigur, mit der chaotischeren Weltordnung erklären lässt. Kurz: Bis zur kapitalistischen Restauration 1990 konnte Deutschland im Fahrwasser der USA schwimmen und sich in Europa aufs wirtschaftliche Kerngeschäft konzentrieren, während zu Hause die Hauptaufgabe war, dass bloß nichts anbrennt, allein schon wegen der Konkurrenz im Osten. So war nicht nur die Außenpolitik, sondern auch die Innenpolitik insofern von einem „Pazifismus“ geprägt als sie hunderte Dämpfungsmechanismen nicht nur für den Klassenkampf, sondern auch für Konflikte innerhalb der Bourgeoisie bereitstellt, wie eine konservative Zentralbank, einen für so eine große Wirtschaftsmacht absurd starken Föderalismus und ein ausgeglichenes Parteiensystem aus einem sozialdemokratisch und einem bourgeois geführten Flügel, in dem über die Länder möglichst alle Parteien am Regime beteiligt werden.

Entsprechend gibt es in der BRD eine besonders starke Klassenzusammenarbeit in der Sozialpartnerschaft, die spätestens seit den Schröderianier*innen faulig ist und abstirbt, und das „Durchregieren“ ist nicht mehr so leicht. Seit den sich ändernden Bedingungen in der Weltordnung, seit 1990 nochmal besonders mit dem Aufstreben Chinas und dem Chaos der Weltwirtschaftskrise seit 2008, fährt das deutsche Kapital und sein Regime in Verkörperung durch Merkel weiterhin alte Strategien und macht immer noch gute Überschüsse im Ausland. Die deutsche Großbourgeoisie begibt sich aber Stück für Stück in eine strategische Sackgasse, da es ein auf „Frieden“ – das heißt einer Weltordnung mit dem Frontstaat Deutschland als friedlicher Insel in einem Meer weltweiter Kriege – angelegtes Regime ist. Ein solches Land ist keine Bonaparte-Figuren gewöhnt, die sich für die Durchsetzung eines großen kapitalistischen Projekts über alle Flügel schwingen und demokratische Spielregeln zeitweise außer Kraft setzen. Das macht eine Schwäche des deutschen Imperialismus in der Post-Jalta-Zeit aus, denn mit kleinen Stellschrauben wird großen Handelskriegen und internationalen Verwerfungen der größten Mächte ebenso wenig beizukommen sein wie dann unvermeidbaren Klassenzusammenstößen.

In dieser Konstellation ist die AfD als politische Abspaltung der Union im Zuge der Eurokrise zu verstehen, wie sich der WASG-Flügel der Linkspartei von der SPD politisch durch die Agenda-Politik löste. Und das chaotischere Parteiensystem ist die augenscheinlichste Folge der sich ändernden Weltordnung für das deutsche Regime: SPD und Unionsparteien, ehemals die Grundpfeiler des politischen Systems, können im neuen Parteiensystem kaum mehr stabile Mehrheiten für die Verwaltung des Kapitals gewinnen und die Dauer-Groko verliert Jahr um Jahr an Legitimität. Zuletzt durch die Causa Maaßen wurde der Fäulniszustand der Groko wieder sichtbar. Es ist aber nicht nur das Parteiensystem, das sich verändert, sondern es fault auch in den Bürokratien eine soziale Basis für einen Bonapartismus heran, die als rechte Opposition gegen Merkel, vor allem in den Sicherheitsapparaten, beginnt.

Theoretischer Exkurs: Bonapartismus und Faschismus

Der Faschismus ist eine Bewegung des Kleinbürgertums und der Deklassierten im Interesse des Großkapitals mit dem historischen Auftrag der physischen Zerstörung der Arbeiter*innen-Organisationen. Der Bonapartismus ist eine Herrschaft, die sich im Interesse des Kapitals über das Kapital und seine Vertretungen hinwegsetzt. Diese Phänomene haben eine gewisse Ähnlichkeit, zumal der siegreiche Faschismus die Herrschaft an einen Bonapartismus abgeben muss, da das Kleinbürgertum selbst zwischen den Hauptklassen steht und seine Interessen nicht souverän äußern kann. Auch treten beide Formen regelmäßig in einem Patt zwischen Kapital und Arbeit auf, in dem keine Hauptklasse die Oberhand gewinnt. Zudem gab es in der Geschichte Mischformen, wie die Franco-Herrschaft, die sich im Kampf gegen die spanische Revolution auf eine faschistische Bewegung ebenso wie auf militärische, klerikale oder royalistische Elemente des Bonapartismus stützte.

Was den Faschismus kennzeichnet, ist sein Charakter als eine kleinbürgerlich geführte Bewegung, die mit der Macht der Straße die organisierte Arbeiter*innenklasse zu zerstören versucht. Der Faschismus ist eben kein besonders aggressiver und reaktionärer Flügel des Kapitals, wie die stalinistische Dimitroffthese es behauptete, sodass eine Volksfront mit „demokratischen“ Teilen der Bourgeoisie möglich wäre, sondern er geht als kleinbürgerliche und deklassierte Bewegung bereits aus dem Scheitern der bürgerlichen Demokratie hervor, wo es nur noch Sozialismus oder Barbarei gibt.

Der Bonapartismus hingegen kann auch aus der staatlichen Bürokratie, besonders dem Militär, hervorgehen und hat einen apparatistischen Charakter. Auch er stützt sich auf die Akklamation der Massen, allerdings tritt er dann als vermittelnder Statthalter auf. Anders als der Faschismus kennt der Bonapartismus linke (Nasser, Chávez) und rechte Vertreter*innen (Brüning, Erdoğan). Jedem bürgerlichen Staat ist eine Tendenz zum Bonapartismus mitgegeben, die sich je nach Situation unterschiedlich stark ausprägt, zum Beispiel aktuell mit dem „schwachen Bonaparte“ Emmanuel Macron in Frankreich oder dem schwachen und verwirrten US-Bonaparten Donald Trump. Außerdem kann der Bonapartismus eingesetzt werden, um ein historisches Projekt zu erringen, zum Beispiel F.D.R. Roosevelts Bonapartismus zum Erlangen der US-Hegemonie über das Weltsystem im Zuge des Zweiten Weltkriegs.

Neue Nazis und alte Seilschaften

Der schwache Bonaparte Macron war auch eine Antwort auf den aggressiven Wirtschafts-Imperialismus der „Eisernen Kanzlerin“ Merkel, die Frankreich im Rennen um die Hegemonie in der EU spätestens im Nachlauf der Weltwirtschaftskrise seit 2008 besiegte. Doch die gleiche Kanzlerin, die mit ihrem greisen Finanzminister Schäuble halb Europa das Fürchten lehrte, kann jetzt nicht einmal ihren eigenen Geheimdienstchef entlassen wie sie möchte. Die Bilanz der Causa Maaßen? Nicht etwa ein Abgrund an Landesverrat, nein, massive Budgeterhöhung für alle Geheimdienste und einer der Protagonisten des rechten Aufruhrs bleibt im Innenministerium. Das ist in nuce der Widerspruch des deutschen Imperialismus: ein pazifistischer Wirtschaftsriese, ein Meister der Stabilität und nur dort. Genau deshalb löst ein Trump in Deutschland auch Schockwellen aus, weil er diese Stabilität alle paar Wochen herausfordert und Merkel darauf keine eigenen Antworten kennt, weil die deutsche Bourgeoisie und ihr Regime so zu handeln und zu denken nicht gewöhnt sind. Um das zu können, braucht es ein Personal, einen Bodensatz an rechten Kräften, die gerade aus der Unfähigkeit des „pazifistischen Imperialismus“ Merkels heranreifen.

Wie wir anhand des Falls zu LKA-Maik nachgezeichnet haben, liegt in der kapitalistischen Restauration der DDR ein wichtiger Teil für die Rekrutierung rechter Kräfte in Deutschland. Der Raub an der DDR durch das Kapital mit dem Nazi-Problem im Schlepptau ist aber nur ein Teil der bürgerlichen Restauration. Ein anderer Teil dieses großen historischen Wandels ist die verloren gegangene Jalta-Ordnung, die für Deutschland, mit allen Kriegen und Verheerungen außen herum, eine relative Stabilität in der weltweiten Konstellation gewährleistet und es von 1948 bis 1990 zum Auge des imperialistischen Sturms am Rand des nuklearen Abgrunds gemacht hatte.

Während der Jalta-Ordnung gab es selbstverständlich immer einen „Plan B“ für den Fall eines militärischen oder sozialen Umsturzes in Deutschland. So wurde im Zuge der Gladio-Bemühungen, die in Italien für den braunen Terror verantwortlich waren, die Wehrsportgruppe Hoffmann alimentiert, die 1980 das Oktoberfestattentat in München verübte. An den Sprengstoff gelangte sie wohl über Militärkontakte. Die Neonazi-Szene war auch vor der Abwicklung der DDR schon unter staatlicher Kontrolle und wurde nur zur Vorsicht als ein Trumpf gegen links am Leben gehalten. Sozialer Nährboden für den Faschismus der NPD und um sie herum war vor allem die staatliche Diskriminierung der Gastarbeiter*innen und ihrer Nachfolge-Generationen, die als billige Arbeitskräfte nach Deutschland geholt wurden und nie eine angemessene Repräsentation in Zivilgesellschaft oder Gewerkschaft oder gar gleiche Rechte erhalten haben. Ohne die systematische Ausgrenzung des migrantischen Teils der multiethnischen Arbeiter*innenklasse in Deutschland wären die NSU-Morde nicht so leicht als „Dönermorde“ in die Akten eingegangen.

Auch fehlte es in Polizei und Geheimdienst nicht an alten Nazis, ging doch der Bundesnachrichtendienst aus der „Operation Gehlen“ des Dritten Reichs hervor. Und bis heute sind auch außerhalb der Geheimdienste viele Bundesbehörden voller faschistischer und halbfaschistischer Maden, die in der echten Gesellschaft einfach kein zumutbarer Umgang wären und sich in Friedenszeiten am Speck des Bürokratie-Überschusses satt essen dürfen. Diese Leute haben in einem „friedlichen“ Regime nach außen wenig zu melden und dürfen ihre Seilschaften pflegen sowie ihre Nazi-Lumpen kommandieren, sie stellen jedoch keine ernste soziale Kraft dar, die eine legitime Repräsentation als rechte Opposition hätte. Und genau das beginnt sich zu ändern – durch die AfD, aber nicht nur durch die AfD, die selbst lediglich Ausdruck eines Reinigungsvorgangs ist. Das deutsche Regime wird vom Pazifismus der Jalta-Zeit als „pazifistischer Frontstaat“ gereinigt.

Der Widerspruch in Maaßens Wegloben ist neben den ganzen parteipolitischen Verwerfungen der Groko, dass sie die Rechten in ihrem Apparat – notgedrungen – angegriffen hat, ohne sie zu schlagen. Und so eine Schwäche verzeihen die nicht. Was Sarrazin für das Arbeits- und Sozialregime ist, ist Maaßen für die rechte Bürokratie und die Sicherheitsapparate: Beide haben einen Schritt zu weit nach rechts gemacht, doch aufgrund des strukturellen rechten Neoliberalismus war eine wirksame Abstrafung nicht möglich. Die Sicherheitsapparate verfügen über Maaßen hinaus in Bayern mit Ankerzentren jetzt über ein noch härteres Lagersystem. Zugleich sollen sie einen Multikulti-Diskurs zugunsten der liberalen Bourgeoisie, die Migrant*innen und Geflüchteten liberal ausbeuten will, dulden. Aber warum sollten die Rechten diesen schwachen Linksliberalismus eigentlich noch dulden? Warum sollten die Kettenhunde der Polizei (mit der Sozialpolizei gegen Arbeitslose und Geflüchtete) nicht selbstbewusster auftreten, wo die Welt um Deutschland herum ins Wanken gerät? Es gibt hier einen besonderen Sektor, den wir genauer betrachten müssen und den sich die deutsche Bourgeoisie gerade im Rahmen des Wechsels der Weltordnung selbst gezogen hat: die Berufsarmee.

Afghanistan und die Heimatfront

Seit 2011 gibt es in Deutschland die Berufsarmee, eingeführt unter von und zu Guttenberg, dem Mann mit den vielen Vornamen, der sich und seine Frau von der Springer-Presse in den Transporthubschrauber nach Afghanistan begleiten ließ, wo es hübsche Fotos für die Heimatfront gab. Obgleich Witzfigur und Plagiator rekrutierte „Gutti“ eine echte kleine Anhänger*innenschaft, die sein erzwungenes Abdanken wehklagte und den feinen Herrn von und zu wegen seines dreisten akademischen Betrugs noch zu einem Mann des Volkes ernannte. Anders als die Wehrpflichtigen-Armee, besteht die Berufsarmee nicht hauptsächlich aus Arbeiter*innen, die nach ihrer Dienstzeit (wieder) in ein normales, ziviles Leben gehen und deren objektives Interesse denen des deutschen Imperialismus gegenübersteht. Die Wehrpflichtigen werden gezwungen, gegen ihre eigenen Interessen für das Kapital zu sterben und ihresgleichen zu töten, nicht so die Berufssoldat*innen. Letztere gehören wie die Polizei einem gesonderten Apparat Getreuer des bürgerlichen Staats an. Deshalb sind die Berufssoldat*innen der imperialistischen Armee, besonders die im Kolonialdienst, aus einer bewussten Perspektive der Arbeiter*innenklasse keine Kolleg*innen. Wie andere Bewaffnete, die zum Zerschlagen eines Streiks engagiert werden, machen sie das schmutzige Geschäft der Bosse.

Zur Berufsarmee als Bedingung des Heranreifens einer sozialen Basis des Bonapartismus in der Truppe zählt der Auslandseinsatz in Kolonien, der schon vor der Professionalisierung mit Kosovo Ende der 1990er und Afghanistan 2001 begonnen wurde. Die Erfahrung der heimgekehrten Besatzer*innen ist es, etwas Höheres zu sein als die einfache Bevölkerung. Zuhause sind sie das nicht mehr und sogar das Heldentum ihrer Mission findet im relativ pazifistischen Deutschland wenig Wertschätzung. Es bleibt die Laufbahn in der Truppe oder die Rückkehr ins Zivile, wo der Elitismus der Besatzer*innen keine Entsprechung findet und im Fall überlebter Kampfeinsätze wenig Verständnis für posttraumatische Belastungsstörungen zu erwarten ist. Wenn sie es nicht schaffen, sich von der kolonialen Last loszusagen und Arbeiter*innen oder selbst Ausbeuter*innen werden, tragen die Heimkehrer*innen das Stigma weiter mit sich. Der gekränkte koloniale Narzissmus kann sich dann durch eine erneute Erhebung über die einfache Bevölkerung der Arbeiter*innen und besonders der ethnisch oder religiös unterdrückten Arbeiter*innen Bahn brechen. Wer den Sprung in der Heimat nicht schafft, bleibt oft der Auswurf aller Klassen. Für solche Auswürfe bietet sich der Faschismus als Ideologie an.

Die spanische Konterrevolution von 1936 wurde logischerweise mit Francos Kolonialtruppen begonnen, die sich auf die Arbeiter*innen und Bauern*Bäuerinnen hetzen ließen. Gegen die deutsche Revolution ab 1919 wurden Freikorps eingesetzt, heimgekehrte Soldaten, die im Zivilen keine Option mehr sahen und gerne auf Arbeiter*innen schossen – so wurden die Räterepubliken und der Ruhraufstand niedergeschossen, so bildete sich ein Kern der faschistischen Basis, die später in der Krise um wild gewordene Kleinbürger*innen und Deklassierte ausgebaut wurde. Auch in den Söldnerbanden der französischen Fremdenlegion war und ist es schwer, nicht auf Faschisten zu treffen. Deutsche Heimkehrer aus der Legion, zuvor oft schon Kriminelle, die vom französischen Staat durch ihre neuen von den alten Taten reingewaschen wurden, blieben zum Beispiel nach dem Algerieneinsatz käuflich für jede reaktionäre Gemeinheit und waren in der deutschen Heimat gesetzlich wie gesellschaftlich Verstoßene, für die es kaum mehr ein Zurück aus dem Krieg gab. Doch die BRD hatte mit dem Menschenschlag des Kolonialsöldners, sozusagen dem Streikbrecher aller Streikbrecher, nach der tabuisierten NS-Generation keine eigenen Erfahrungen mehr.

Die innere Bestimmung der Kolonialtruppe, die anderen Völker gewaltsam zu unterwerfen, dehnt sich notwendig auch auf Teile der Truppen aus, die diese Erfahrung selbst (noch) nicht gemacht haben: Der nur zufällig vereitelte mutmaßliche Rechtsterrorist und Oberleutnant a.D. Franco A., der in der französisch-deutschen Militärakademie bei Straßburg von der Durchmischung der Rassen schwadronierte, ist nur die konsequente Fortsetzung der Kolonialmentalität, die den modernen Rassismus überhaupt erzeugt hatte. Franco A. ist inzwischen „mangels dringenden Tatverdachts“ wieder auf freiem Fuß. Ihm wurde vorgeworfen, einen Anschlag geplant zu haben und ihn mit Übernahme einer syrischen Identität den Geflüchteten in die Schuhe schieben zu wollen, um die Rechte zu stärken. Interessanterweise übernahm der vermeintliche Herrenmensch zur Schuldumkehr die Rolle des Opfers –  er mimte die Figur des zu Unterwerfenden, um den Krieg in die Heimat zu holen.

Und es gibt tausende Franco A.s in jeder Kolonialarmee. Angehörige der Afghanistan-Besatzungstruppen nennen sich schon mal „gewöhnlicher Landser“ und keine*r stellt Fragen. Sehen wir von solchen eindeutigen NS-Romantiken ab, fragen wir uns, was es bedeutet, wenn Bundeswehr-Angehörige in Kundus einen Schrein für ihre Gefallenen bauen, auf dem „Treue um Treue“ zu lesen ist, ein Ausspruch, den auch die Nazi-Armeen verwendeten? Nun, alle Soldat*innen müssen eine Treue zu ihren Kamerad*innen haben, sonst wäre die Armee nicht funktionstüchtig. Es ist nichts eigentlich Faschistisches darin, um die Gefallenen zu trauern. Aber was ist der politische Inhalt dieser Treue in einer Besatzungsarmee? Es ist die Treue des Kolonialherrn zur Unterwerfung der unterdrückten Völker.

Dabei spielte die genaue Funktion der Besatzungstruppen in Kundus eine wichtige Rolle, die zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt wurden. Jede*r Ortsansässige ist immer verdächtig, „green on blue“-Angriffe wurden gefürchtet, Angriffe auf Besatzungstruppen aus den Reihen der afghanischen Armee, ebenso selbst gebastelte Sprengsätze von Paramilitärs. Aber auch Zivilist*innen war aus Perspektive des „gewöhnlichen Landsers“ nicht zu trauen, galt deren Loyalität doch der Familie, dem Clan, dem eigenen Leben und nicht dem der Expeditionstruppen. Wer ein Leben im Feldlager geführt hat, auf einer Anhöhe, die im kolonialen Feinsinn „431“ getauft wurde, umgeben von verschiedenen Taliban-Fraktionen und unklaren Loyalitäten der Bevölkerung, kommt heim mit der Erfahrung, dass überall der Feind lauert.

Die BRD hatte mit Afghanistan schließlich ihr erstes in der breiten Öffentlichkeit besprochenes Kriegsverbrechen zu verbuchen: Oberst Kleins Anschlag auf einen Tanklaster bei Kundus, bei dem über hundert Menschen grundlos per Luftschlag getötet wurden, darunter Kinder. Eine Wahl kam dazwischen, sodass der damalige Verteidigungsminister F.J. Jung später als Arbeitsminister zurücktreten durfte. Georg Klein hingegen, der Kosovo-Veteran, der bei Kundus den Befehl zum Tod aus der Luft gegeben hatte, blieb straffrei und dient inzwischen als Brigadegeneral. Gegen solche Verbrechen sind die für Zivilist*innen ekelhaften Rituale in Eliteeinheiten Kindergarten und in einer solchen Truppe gibt es natürlich auch zahlreiche Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen und Morden.

Die Immunität von Besatzungstruppen, besonders der Offiziere, ist ein zentrales Vorrecht, das sich der Imperialismus gegenüber den Beherrschten nimmt. Entsprechend erkennen die USA internationale Kriegsverbrechen-Tribunale und Übereinkünfte zur Beschränkung ihrer Kolonialwillkür nicht an. Selbstverständlich können die Unterworfenen nicht ihre Herren vor ein Tribunal stellen – ganz im Gegenteil war ja die Bundeswehr im Auftrag eines Tribunals der Demokratie und Menschenrechte in Afghanistan (Stichwörter „Brunnenbau“ und „Mädchenschulen“) und statuierte dort das Exempel ihrer Überlegenheit. Die lächerlichen Demokratie-Kampagnen der großen Imperialismen tragen auch immer einen Hohn gegen die Unterdrückten in sich, einen Widerhall der Kolonialerzählung von der Gangbarmachung der Wildnis. Niemandem Rechenschaft schuldig zu sein ist nach außen die Bestimmung des Imperialismus, der nach Hegemonie strebt, nach innen die des Bonaparten.

Eine rechte Opposition in der Truppe

Vor diesem Hintergrund sollte es nicht verwundern, dass eine erkleckliche Anzahl der AfD-Abgeordneten, die sich in deutschen Parlamenten breitmachen, selbst Bundeswehr-Ehemalige sind oder sich in gemeinsamen Netzwerken befinden. Einige der etwa zehn Prozent (Ex-)Bundeswehr-Angehörigen in den AfD-Fraktionen bekleideten höhere Offiziersposten. So Georg Pazderski, der Vorzeige-Oberst-a.D. der AfD. Pazderski platzt vor Stolz, wenn er von seinem Dienst beim ehemaligen Oberbefehlshaber der afghanischen Kolonialtruppen General Petraeus berichtet: „Wenn man einmal in den USA gearbeitet hat, dann merkt man erst, was es bedeutet, eine Weltmacht zu sein.“ Da möchte der Oberst in Kontinuität zur Wehrmacht natürlich die deutsche Bundeswehr sehen, über allem in der Welt. Die große Kränkung des „moderaten“ Nationalisten Pazderski ist der schwächliche, zivilistische Charakter der Bundeswehr unter Merkel trotz wirtschaftlicher Stärke. Mit dieser Kritik ist er in der Bundeswehr nicht allein und findet auch Resonanz in Unionskreisen selbst. Die AfD ist als Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zu verstehen, nicht als absoluter Fremdkörper, denn sie wurde selbst von dem Organismus hergestellt, den sie bekämpft. Wichtiger noch als AfD- und Naziseilschaften in den Sicherheitsapparaten und in der Truppe ist der gesamte Sumpf um sie herum, der sie in seiner Fäulnis als fauligste Elemente hervorbringt.

So gibt es eine ganze Menge Figuren, die nicht aus der AfD kommen und Merkel (oft über den Umweg von der Leyens) dennoch von rechts kritisieren, einfach weil es die Logik einer Interventionsarmee erfordert, den Pazifismus endlich abzulegen. Walter Spindler, Generalmajor und Kommandeur des Ausbildungskommandos des deutschen Heeres in Leipzig a.D., wurde von der Merkel-Vertrauten von der Leyen Sommer 2017 wegen zögerlicher Ermittlungen bei Vorwürfen sexueller Übergriffe im Heer abgesetzt. Spindler war Absolvent der Bundeswehr-Uni, Corps-Mitglied, lebenslang Berufssoldat und Mitorganisator der Besatzung Afghanistans. Dort hatte er sich als Kommandeur der „Kabul Multinational Brigade“ seine Sporen im Kolonialdienst verdient, organisierte unter anderem die Wahlen zur Bestätigung der Marionettenregierung Karsai. Die Entlassung des „verdienten Soldaten“ kam in der Truppe nicht gut an.

Im März 2018 machte Kapitän zur See Jörg-Michael Horn seinen Abschied als Kommandeur des 2. Fregattengeschwaders der Marine zum Anlass für eine Brandrede gegen Merkel in von der Leyens Gewand; „fünf vor Zwölf“ sei es in der Marine. Er kritisierte vor allem die mangelhafte Ausrüstung der Marine. Er hatte zuvor immer wieder eine operative Gefechtspause in den aktuellen Einsätzen verlangt, um die Marine zu konsolidieren und bündnisfähig zu machen – die derzeitigen Geplänkel auf der See dienen offenbar nicht dazu, eine schlagkräftige Flotte zu bekommen. Horn kommandierte den größten Einsatzverband der Marine und seine Stimme hat entsprechend Gewicht. Die FAZ schreibt zum Zustand der Deutschen Marine anhand des Falls Horn von einer „tristen Mischung aus Einsatzerfordernissen, Streitkräfteschrumpfung und Sparzwängen“ und trifft damit den Punkt, dass sich der deutsche Imperialismus in einem tiefen Widerspruch von Umstellung auf eine Interventionsarmee, neoliberalem Sparkurs und aus der Jalta-Ordnung übrig gebliebenem Pazifismus der umgebenden Bevölkerung befindet, der der Berufsarmee das Leben schwer und die Repräsentant*innen der Verwaltung dieses Widerspruchs im Merkelismus entsprechend unbeliebt macht. Der Bootsmann ist dann „nicht immer angenehm“, wie es im Lied des Ausbildungsschiffes „Gorch Fock“ heißt, auf dem vor zehn Jahren eine Soldatin mutmaßlich ermordet wurde.

Von weiteren Vertretern der Marine bis zum Ex-Generalinspektor Kujat, der 2017 seine Stimme erhob, ging die Kritik gegen die eigene Regierung. Sie wird angefacht von der Union selbst, auch dort gibt es Rufe nach einer stärkeren deutschen Militärmacht, zuletzt vom vor zehn Jahren von Merkel abgesägten Ex-Umweltminister Norbert Röttgen, der seitdem eigentlich ein Dasein als politischer Zombie führt. Aber einer wie Röttgen ist nur eine Puppe, die für andere spricht, letztlich für den rechten Flügel der Unionsparteien und insgesamt für eine noch unklare Fraktion des deutschen Kapitals, die sich einen selbstbewussteren deutschen Militär-Imperialismus wünscht. Der neue Fraktionschef der Union im Bundestag Ralph Brinkhaus, der zuletzt überraschend den Merkel-Vertrauten Kauder abgelöst hatte, nahm Merkel und von der Leyen kurz nach seiner Wahl für den desolaten Zustand der Bundeswehr in die Pflicht. Die CDU müsse „die Partei der Bundeswehr“ werden. Auch andere Stimmen aus dem rechten Lager der Union greifen die Politik von Merkel mittlerweile offen an: „Wir sind offenbar nicht gewillt oder in der Lage, die Bundeswehr vernünftig auszurüsten. Das ist peinlich.“, kritisierte der CDU-Vizepräsident des niedersächsischen Landtags Frank Oesterhelweg auf einem CDU-Parteitag im Frühjahr. Die Diskussionen um den desolaten Zustand der Bundeswehr sind dabei nicht nur instrumentell, der Zustand ist auch wirklich desolat – zumal für den Hegemon der EU und Anwärter im Rennen mit den USA um die weltweite Vorherrschaft der Post-Jalta-Ordnung. Es ist zwar richtig, dass der Weg zunächst über eine deutsch-französisch geführte Einsatztruppe gehen könnte, wie sie in Mali erprobt wird und sich dort zurzeit kolonial ansässig macht. Allerdings, wie soll Frankreich einen deutschen Militärpartner ernst nehmen und sich im Zweifelsfall dessen Interessen unterordnen, der nicht einmal seine ohnehin nur halb so starke Flotte funktionsfähig bringen kann?

Auch wenn es an Personal für die Truppe fehlt, besonders für die strategisch wichtiger werdende Marine, die im September erst Richtfest für ein neues Hauptquartier an der Ostsee feierte, von dem aus internationale Einsätze koordiniert werden sollen, gibt es einen ganz anderen Maßstab als in der „alten Bundeswehr“ aus der Frontstaat-Zeit zwischen Weltkrieg und kapitalistischer Wiederherstellung. Die Bundeswehr hat zwar zu wenig Personal, doch sie erzeugt durch den aggressiveren Anspruch der deutschen Bourgeoisie ein eigenes Personal in sich, wie auch die nach innen stärker militarisierten Sicherheitsapparate, nämlich das des Bonapartismus. Ein Projekt, das in diesem Zusammenhang fällig wird, ist eine souveränere Exekutive in Bezug auf Armee, die gehemmt wird vom alten Rechtsstatus der „Parlamentsarmee“, bei dem jede*r Soldat*in im Ausland einen Wisch vom Berliner Bundestag braucht. Die Bundeswehr wird, um die Interessen der Bourgeoisie in weltweit unsicheren Zeiten erfüllen zu können, mehr Selbständigkeit brauchen. Darum drehen sich neben den Materialproblemen, an denen Deutschland mit den Zwei-Prozent-des-BIPs-Ziel für Militärausgaben bereits arbeitet und auf die auch die deutsche Industrie schon spechtet, die Beschwerden Truppenangehöriger, dass es kein Vertrauen und zu viel Kontrolle gebe, Skandale aufgebauscht würden, man eben nicht schalten und walten kann – als Äquivalent zu Maaßen im Inneren, der das ganze Gehabe um seine Streifzüge in braune Sümpfe nicht versteht, ist doch die innere Kontrolle eben die Aufgabe eines ordentlichen Geheimdienstes.

Die Reinigung vom Pazifismus

Es gibt im Zusammenhang mit der Selbständigkeit der Apparate jedoch einen weit verbreiteten Irrtum in der Bewertung rechter Kräfte im Polizei- und Geheimdienstapparat, nämlich die These vom „Tiefen Staat“. Der Tiefe Staat beschreibt verselbständigte Formationen innerhalb des bürgerlichen Staates, die wie von selbst eigene Interessen vertreten. Nun sind einmal alle Teile des Staates und des in die Zivilgesellschaft hineinreichenden Regimes bis zu einem gewissen Grad selbständig, sonst könnte der Staat nicht als ideeller Gesamtkapitalist die Gesamtinteressen des Kapitals vertreten. So verträte die zerstrittene Union, selbst wenn sie sich einig wäre, nur in seltenen Fällen direkt die Interessen des Kapitals, sondern sie unterliegt immer einer eigenen Bewegung, mit eigenen Personen und so weiter. Das gilt auch für die Geheimdienste. Selbstverständlich betreiben Geheimdienste und Militärs illegale Verschwörungen, ansonsten wären sie nicht notwendig. In jedem Geheimdienst und jeder Berufsarmee ist ein kleines bonapartistisches Element angelegt, das sich über den Staat und die Klassen zeitweise erhebt, aber ob das passiert, liegt eben nicht in den Händen einiger Offiziere und Schlapphüte, sondern in der Konstellation der Kräfteverhältnisse der Klassen und der politischen Dynamik auf nationaler und internationaler Ebene.

Die Entwicklung einer höheren Selbständigkeit der „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“ (Lenin nach Engels) ist wie alles in der Klassengesellschaft nicht kleinlich anhand einzelner Klüngeleien, sondern politisch anhand der realen Bewegungen der weltweiten Klassengesellschaft zu verstehen. Zur Debatte um die Post-Jalta-Ordnung haben wir festgehalten, dass der Pazifismus noch eine Hürde ist für den deutschen Imperialismus. Die Militarisierung nach Innen und Außen kämpft gegen diese Hürde an, aber dafür braucht es Anlässe. Die rechten Angriffe gehen gegen Migrant*innen im Inneren, aber auch gegen den pazifistischen Multilateralismus der deutschen Bourgeoisie im Äußeren, wie bei Trump – gerade wegen Figuren wie Trump als Ergebnisse der chaotischen Post-Jalta-Ordnung braucht Deutschland stärkere und selbständigere bewaffnete Einheiten. Und Deutschland braucht eine bonapartistischere Regierung als bisher, deren Basis vor allem in den Sicherheitsapparaten des Staates selbst entsteht.

Das ist die Dialektik der Reinigung vom Pazifismus: Es gibt eine politisch-ökonomische Notwendigkeit für mehr Bonapartismus und die Bedingungen dieser Notwendigkeit erzeugen auch die Akteure, die zu weiteren Schritten bereit sind. Afghanistan und Kosovo wurden wegen der multipolareren Weltordnung der kapitalistischen Restauration besetzt, auf die Bundeswehr warten jetzt noch mehr solche Erfahrungen, die mehr übles Personal für kommende Bonapart*innen zusammenführen werden. Nach dem gleichen Muster einer entstehenden Schicht der rechten Opposition in den Sicherheitsapparaten als Ausdruck des Scheiterns des Bürgertums wurde die AfD als Ergebnis von Euro- und Imperialismus-Krise im Nahen Osten („Migrationskrise“) gegründet und schöpft Führpersonal zusammen. Und ebenso müssen wir darauf reagieren: Das Scheitern der alten Ordnung führt, wenn es keine Antwort der Arbeiter*innenklasse als einzige progressive Klasse gibt, notwendig zur Aushebung einer aggressiven Basis zur Verteidigung des Kapitalismus nach innen und außen. Diese Phase steht uns bevor und wir wollen darauf mit der gleichen Festigkeit antworten, die unsere Feind*innen an den Tag legen. Sie haben ihre Truppen, wir brauchen unsere Truppen – unsere sind zu bilden als antibürokratische, antikapitalistische Strömung in den Gewerkschaften, als Arbeiter*innen-Strömung der Jugendlichen und Frauen und als klassenkämpferische Aktion der multiethnischen Arbeiter*innenklasse, die sich von der kaputten Sozialpartnerschaft lossagt. Die Faulelemente des Bonapartismus sind sozial eigentlich schwach, sie stehen für niemanden außer sich selbst – eine konsequente internationalistische und revolutionäre Strömung der Arbeiter*innenklasse wird sie in Zukunft mit Leichtigkeit umwerfen können.

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