Französischer Kapitalismus und Bonapartismus

28.12.2015, Lesezeit 10 Min.
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Bereits seit dem Sommer 2014 machte sich eine Verstärkung der bonapartistischen Tendenzen innerhalb des republikanisch-demokratischen bürgerlichen Regimes Frankreichs bemerkbar. Dies begann mit dem Verbot von Demonstrationen, die sich mit dem palästinensischen Volk solidarisierten, während Israel gerade eine große militärische Aggression gegen Gaza begann. Nach den Attentaten des 11. Januar setzte sich diese Politik fort. Natürlich ist es nicht so, dass wir kurz vor dem Faschismus oder davor wären, dass das bürgerlich-demokratische Regime ausgelöscht werden würde. Aber schon jetzt macht es die Situation erforderlich, die Besonderheiten der Präsidentschaft Hollandes und der Regierung Valls zu identifizieren. Hierbei handelt es sich zumal um eine in Frankreich verwurzelte Tradition, die selbst die offensten bonapartistischen Regime dadurch kennzeichnen, dass sie sich immer auf bürgerlich-demokratische Institutionen gestützt haben - mit Ausnahme des Vichy-Pétain-Regimes von 1940 bis 1944.

Wir wollen hier den Schwerpunkt nicht auf konjunkturelle, sondern strukturelle und strategische Elemente setzen. Diese sind mit der Natur des französischen Kapitalismus selbst verbunden und erklären die Notwendigkeit des Rückgriffs auf bonapartistische Maßnahmen. Die Beleuchtung dieser Elemente hilft uns umso mehr in der politischen Phase nach dem 13. November, das Dekret des Notstandes und den Kriegseintritt Frankreich gegen den Islamischen Staat (IS) einzustufen. Möglicherweise bedarf es nur eines Funken mehr, um sich noch weiter zu verstärken und sich auf ein Niveau auszubreiten, wie seit Jahrzehnten nicht.

Einige Besonderheiten des französischen Kapitalismus im Rahmen des imperialistischen Weltsystems

Zunächst einige Zahlen: Frankreich, das als dauerhaftes Mitglied dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angehört, ist die weltweit viertgrößte Militärmacht, der sechstgrößte Waffenexporteur, die neuntgrößte Macht bezüglich des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die drittgrößte bezüglich ausländischer Direktinvestitionen, das viertgrößte Land bezüglich der ausländischen Direktinvestitionen in Frankreich, die sechstgrößte Exportmacht und schließlich die viertgrößte bezüglich des Vermögens pro Haushalt. Frankreich besetzt also vom Standpunkt der imperialistischen Beziehungen und der Kapitalakkumulation einen besonderen Platz. Trotz des Niedergangs Frankreichs auf der Ebene der Weltwirtschaft seit den 1990er Jahren hat Paris weiterhin ein nicht zu vernachlässigendes Gewicht im internationalen Kräftespiel. Diese Situation ist unmittelbar an die historisch besonderen Formen des französischen Kapitalismus geknüpft, wovon uns drei hier besonders interessieren.

Als erstes Element reproduzieren sich in Frankreich – im Gegensatz zu anderen Ländern wie Deutschland, wo es viel mehr aufsteigende Mobilität der Eliten gibt – die Entscheider*innen aus einem sehr geschlossenen Kreis, zu dem nur die herrschenden Klassen Zugang haben. Diese Besonderheit hängt mit der zentralen Rolle des Staates zusammen, die aus der absoluten Monarchie geerbt wurde. Der Staatsapparat, die größten Bossen und die führenden Eliten der großen Unternehmen, die alle innerhalb der großen öffentlichen französischen Eliteschulen geformt werden – ENA, Polytechnische, usw.1 –, sind strukturell miteinander verschmolzen.

Das zweite Element ist das erdrückende Gewicht des Militarismus – nicht nur vom Standpunkt des Industrieapparates aus, sondern auch von einem ökonomischen und sozialen Standpunkt – gekreuzt mit dem kolonialen Erbe, was dem französischen Imperialismus seine besondere Tonalität nach außen gibt. Auch nach innen hat dies aber äußerst wichtige Konsequenzen.

Das dritte Element schließlich hängt ebenso mit der besonderen Rolle des Staates zusammen: Frankreich ist ein Land, in dem zum Unterschied des reinen, unternehmerischen Kapitalismus ein Kapitalismus des Typs der Rente herrscht, wodurch die Geschäfte sehr eng an den Staat und die Exporte gebunden sind.

Um sich auf einem bestimmten Niveau zu halten, unterhält der französische Kapitalismus besondere Verbindungen zu den ehemaligen, afrikanischen Kolonien. Diese Verbindungen erlauben es Frankreich, sein Außenhandelsdefizit auszugleichen, indem es von ihnen einen Handelsüberschuss in Exporten, substantielle Finanzeinkommen und einen gesicherten Zugang zu einer gewissen Menge an Rohstoffen erhält. Bezüglich der Kapitalflüsse zu der ehemaligen Metropole spielen die Eliten und die afrikanischen Hierarchien eine besondere Rolle im Rückfluss des Kapitals nach Frankreich von der Elfenbeinküste, Gabun, der Demokratischen Republik Kongo, usw. Hinzu kommt für den französischen Kapitalismus nicht nur ein Ausbeutungsplatz im Allgemeinen, sondern auch für seine wichtigsten Unternehmen wie beispielsweise dem multinationalen Konzernen Areva im Niger. Wir erinnern daran, dass der Mineralölkonzern Total ein Drittel der Ölextraktion in Afrika kontrolliert oder an die besondere Rolle von einigen multinationalen, französischen Konzernen, besonders in den infrastrukturellen Sektoren und im Sektor öffentlicher Arbeiten und Gebäude, wie Bolloré, Vinci oder auch Lafarge.

Geopolitische Fundamente und Auswirkungen

Die Wichtigkeit dieser strukturellen Beschaffenheit beschränkt sich nicht nur auf die ökonomische Ebene, sondern übersetzt sich auch auf das geopolitische Feld. Von einem militärischen Standpunkt aus stellen wir zunächst fest, dass es zwischen 1969 und 2009 in jedem Jahr mindestens eine Militärintervention der französischen Armee in Afrika gab. Dieser Interventionismus hat sich zwar in den letzten Jahrzehnte immer wieder verändert. Nichtsdestotrotz verfügt Frankreich weiterhin über dauerhafte Militärbasen und mindestens 7.500 Soldat*innen auf dem afrikanischen Kontinent. Das verleiht dem französischen Militärapparat an eine privilegierte Ausgangsposition für Gebiete gibt, die bis jetzt nicht französisches Revier waren. Das betrifft besonders die Golfstaaten, dank der kürzlich unterzeichneten Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Abu Dhabi.

Man sollte die Bedeutung Afrikas für die französische Politik nicht kleinreden. Es besteht ein, sowohl von links als auch von rechts, vertretener Konsens, die sehr starken Verbindungen mit Afrika aufrecht zu erhalten – vor allem seit 1981 und trotz der Versprechungen der Linken, die bestehenden Beziehungen zwischen Paris und seinen alten Kolonien zu ändern oder anzupassen. Diese Beziehung wurde systematisch unterhalten oder angepasst, aber einzig in dem Sinne, dass jeder Präsident sein eigenes französisch-afrikanisches Netz neu aufgebaut hat. Afrika, das ist das private Jagdrevier des Elysée-Palasts, ebenso wie alles, was mit dem französischen Imperialismus verbunden ist: seine Leitung und seine verschiedenen Modalitäten, die allesamt niemals demokratisch sind, weil das Parlament niemals damit befasst oder einberufen wird. Auf lange Sicht haben diese zugleich privilegierten und einzigartigen Verbindungen trotz der Entwicklungen des Kapitalismus in Frankreich und der Rolle Frankreich auf internationaler Ebene im zweiten Weltkrieg angehalten – vor allem als Motormeister der europäischen „Einigung“.

Ein Renten- und Kriegskapitalismus als Erzeuger der dauerhaften Neigungen zum Bonapartismus

Was wir hier betonen möchten, ist, dass die Besonderheiten des französischen Kapitalismus durch seinen Renten- und militärischen Charakter auf ökonomischer, geopolitischer und auch sozialer Ebene auf konstante, strukturelle Weise Möglichkeiten und Neigungen zum Bonapartismus erzeugen. Sofern sich diese Grundzüge mehr oder weniger direkt – abhängig von der politischen Konjunktur – auf das Verhältnis der Klassenkräfte auswirken, ist es von grundlegender Bedeutung, die Ursachen dieser Charakteristika zu studieren. Nur so können wir erfahren, welcher Art von Kapitalismus wir gegenüber stehen. Das ist umso wichtiger, als diese Charakteristika sich seit 2012 unter der Präsidentschaft von Hollande am meisten entwickelt haben, der die Interventionen vervielfacht hat und mit einem militärischen, aber auch wirtschaftlich-geopolitischem Charakter in Afrika und im Mittleren Osten interveniert.

Hollande versucht das Kräfteverhältnis zu Merkel umzudrehen, indem er auf europäischer Ebene Diskussionen führt. Er verkörpert diese Mentalität des „pivaten Jagdreviers“: Die französische Diplomate wird direkt vom Elysee geleitet. Das hat allein seit Sarkozy zum Sturz von Gbagbo, den Interventionen in Libyen, Mali, in der Zentralafrikanischen Republik, der Politik im Nahen Osten und dem Verkauf von Flugzeugen von Dassault an die ägyptische Diktatur und andere Ölmonarchien geführt. Daher war es auch kein Zufall, dass Frankreich das erste Land war, das den General Al-Sissi eingeladen hat. Das ist das Spiegelbild der Schwäche der Wettbewerbsfähigkeit des französischen Kapitalismus, was zugleich auch erklärt, warum der Staat weiterhin eine so wichtige Rolle spielt, um die französische Industrie im Ausland zu fördern.

„Salvendiplomatie“ und der „Krieg gegen den Terror“ nach Außen, soziale Konterrevolution nach Innen

Auch wenn diese Elemente der Außenpolitik die tiefe Ursache für diese reaktionären Tendenzen sind, stammen letztere auch unmittelbar aus dem Willen, seit 2008 die Konterrevolution gegen die Reste des Wohlfahrtsstaats zu beschleunigen und das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit tiefgründig zu verändern.

Aufgrund der Schwäche, die am Ende der Sarkozy-Periode stand, war die Präsidentschaft von Hollande zunächst weniger bonapartistisch und vor allem durch den Versuch gekennzeichnet, mit der Regierung Ayrault auf den „sozialen Dialog“ zurückzugreifen. Aber dieser Dialog erreichte schnell seine Grenzen – und das schon lange vor dem bonapartistischem Sprung nach den Anschlägen vom 13. November. Mit Valls ist diese erste Phase tatsächlich sehr schnell Vergangenheit geworden, was das Gesetz Macron2, die systematische Kriminalisierung der sozialen Kämpfe, vor allem die Überwachungsgesetze und die sich seit September intensivierende Verfolgung von Migrant*innen, beweisen. Aber ganz klar hat der 13. November die Möglichkeit eröffnet, die freiheitsbeschränkenden und antisozialen Tendenzen innerhalb Frankreichs qualitativ zu verstärken. Diese stehen in unmittelbarem Verhältnis zu den Kriegsinterventionen des französischen Imperialismus, im Rhythmus von einem Krieg pro Jahr seit Hollandes Amtsantritt. Der gerade vollzogene Sprung im Militäreinsatz in Syrien ist offensichtlich nur der aktuellste Ausdruck davon. Man muss fast auf den Krieg von Algerien und der Regierung Mollet zurückgehen, um eine so reaktionäre und freiheitsbeschränkende „linke“ Regierung zu finden.

Zusammenfassend sind die bonapartistischen Tendenzen in Frankreich sowohl auf die Struktur des französischen Kapitalismus und die Natur des Staates und seiner Besonderheiten des Regimes zurückzuführen. Wie wir in unserem Artikel „Die Anschläge von Paris und die Möglichkeit einer Anti-Kriegs-Bewegung“ geschrieben haben, ist die Realität, dass Hollande und die französische Bourgeoisie wegen der oben beschriebenen Schwächen, keine Lösungen auf der Höhe ihrer tatsächlichen Notwendigkeiten haben. Sie wissen nicht, wie sie die Widersprüche, die gerade dabei sind, zu explodieren, lösen und haben deshalb keine anderen Mittel als eine Fortführung der schlecht konsolidierten bonapartistischen Regierungen und/oder Regime anzubieten. Das lässt wiederum auf neue Krisen, nach oben wie nach unten, in der nahen Zukunft schließen. Vor allem, wenn die Mobilisierung gegen den Notstand, dem Beispiel des Einheitstreffens vom 17. Dezember in Paris folgend, Wurzeln schlagen.

Fußnoten

1. Die école nationale d’aministration (ENA, Nationale Verwaltungsschule) und die école polytechnique (Ingenieursschule) sind zwei der wichtigsten französischen Eliteschulen (grande école). Hier werden die Eliten des Landes geformt. Nahezu alle wichtigen Politiker*innen stammen von der ENA und besuchten meist dieselben Klassen. Um dort studieren zu dürfen muss, eine besondere Prüfung erfolgreich abgelegt werden, wozu es in der Regel des Besuches einer dreijährigen kostenpflichtigen Schule bedarf (classes préparatoires, Vorbereitungskurse). Anm. d. Übs.

2. Der französische Wirtschaftsminister Macron setzte im Februar 2015 Reformen zur Verlängerung der Ladenöffnungszeiten und zur „Vereinfachung“ von Arbeitsgerichtsverfahren durch. Anm. d. Übs.

Ursprünglich am 18. Dezember bei révolutionpermanente.fr veröffentlicht

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