[Fotoreportage] Druckerei unter ArbeiterInnenkontrolle
// Die größte argentinische Druckerei war einmal ein privates Unternehmen. Es sollte geschlossen werden, weil sich mit Druckerzeugnissen angeblich nicht mehr genug Gewinn machen ließ. Doch der Eigentümer hatte seine Rechnung ohne die Beschäftigten gemacht. Die haben kurzerhand ihren Betrieb übernommen. //
Kräftig und laut schlägt das Herz der Druckerei. Es ist eine aus den ’80er Jahren stammende Offset-Druckmaschine. Auf der einen Seite werden ihr schier endlose Papierrollen zugeführt, auf der anderen kommen über den Ausleger (eine Art Fließband) die halbfertigen Druckprodukte heraus. Blau gekleidete Arbeiter nehmen sie vom Band, laden sie auf Hubwagen und transportieren sie weiter in die Binderei. Wie in jeder anderen Druckerei scheint der Alltag hier zu laufen. Doch kleine Details machen stutzig. So ist der Ständer der Stechuhrkarten mit Staub bedeckt, und eine kleine Spinne hat es sich zwischen den Karten gemütlich gemacht. Die Drehkreuze, die einst den Bürobereich von den Produktionshallen trennten, sind stillgelegt. An der Empfangstheke sitzt ein bärtiger Mann mit einem Becher Matetee in der Hand. Auf einem Stapel von Papieren stehen zwei Megafone neben einem dudelnden Radio. Und vom Dach der Fabrik hängen bunte Transparente. Wie in jeder anderen Großdruckerei laufen die Dinge hier nicht. Nicht mehr.
Am 12. August 2014 wurde die argentinische Niederlassung des global agierenden Druckereiunternehmens R. R. Donnelley übernommen. Von den Beschäftigten!
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Die Kooperative
Übernahmen dieser Art haben in Argentinien eine gewisse Tradition. Während der großen Wirtschaftskrise 2001 wurden mehr als 160 Fabriken von ihrem Personal übernommen und in Kooperativen umgewandelt. Die meisten mussten jedoch wegen zu hohem ökonomischem Druck im Laufe der Jahre schließen oder wurden von ihren alten Eigentümern wieder zurückgewonnen. Der Keramikhersteller Zanon gehört zu den Ausnahmen. Nach einem achtjährigen Kampf enteignete das Provinzparlament 2009 den alten Eigentümer der Fabrik und überschrieb sie der Kooperative. Mit dieser Keramikfabrik stehen die Arbeiter/innen von Donnelley seit dem ersten Tag der Übernahme in Kontakt. Raúl Godoy – Gewerkschaftsführer von Zanon und Abgeordneter der PTS (Partei der Sozialistischen Arbeiter/innen) – besuchte mehrfach die Donnelley-Druckerei. Der gemeinsame Erfahrungsaustausch bekräftigte die Beschäftigten, die Fabrik in eine Kooperative umzuwandeln, als Ziel jedoch eine Verstaatlichung unter Arbeiter/innen-Kontrolle zu fordern.
Das Plenum
In den Druckereihallen riecht die Luft nach Papier, die Hitze der ratternden Maschinen treibt den Schweiß ins Gesicht. Ginge es nach dem Willen des rechtlichen Eigentümers der größten Druckerei in Argentinien, würden hier längst alle Räder still stehen. An einem Morgen im August 2014 standen die 400 Beschäftigten vor dem verschlossenen Fabriktor. Auf einem kleinen, in ein Fenster geklebten Brief mussten sie lesen, dass sie alle fristlos entlassen seien. Aufgrund von „krisenvorbereitenden Maßnahmen“. Doch heute drehen sich die Rollen der Druckmaschine wieder, und Papier läuft endlos über hunderte von Rollen, Pressen und Schneidemaschinen.
Es ist Schichtende. Vor der Theke des Pförtners versammeln sich alle aus der Schicht zum Plenum. Sie sprechen über den Arbeitsfortschritt und diskutieren aufgetretene Probleme. Mit welcher Geschwindigkeit laufen die Maschinen? Wie organisieren wir die Produktionsabläufe am besten? Diese Fragen werden heute von den Menschen beantwortet, die in den entsprechenden Bereichen arbeiten und die Realität der Fabrik nicht nur aus Bilanzen und Statistiken kennen.
Die Versammlung löst sich nach 15 Minuten wieder auf. Aus der Menge kommen ein dünner Mann mit nachdenklichem, ein wenig traurig wirkendem Blick und ein kräftigerer mit einem breiten Lächeln auf mich zu. Statt vom Chef werde ich von Vertretern des Betriebsrates empfangen, den Druckern Christian und Bobby. Die meisten anderen stellen sich in einer Reihe am Ausgang an. Der Pförtner wirft einen flüchtigen Blick in ihre Rucksäcke, bevor sie nach Hause gehen. Ihre Schicht dauerte heute fünf Stunden. Je nach Auftragslage arbeiten sie mehr oder weniger, maximal aber acht Stunden.
Der Acht-Stunden-Tag
„Vor fünf Jahren wurde hier noch anders gearbeitet“, sagt Christian. Bis zu zwölf Stunden dauerte ein Arbeitstag. Oftmals musste bis zu sieben Tage die Woche geschuftet werden. Christian zieht die Stirn hoch. „Die Beschäftigten hier waren oft in der Fabrik eingeschlossen. Sie haben viel Kontakt zu ihren Familien und Kindern verloren.“ Die damaligen Löhne seien so gering gewesen, dass alle viele Überstunden machen mussten, um ihre Familien durchzubringen. Das Unternehmen habe darüber hinaus immer mehr Arbeitsplätze und Aufträge ausgelagert, um die Lohnkosten noch weiter zu senken. „Durch all diese Arbeitsumstände wurde uns bewusst, wie wichtig es ist, die Wochenenden zu Hause zu sein“, erzählt Bobby. „Da haben wir begonnen, für den Acht-Stunden-Tag zu kämpfen.“ Und für einen höheren und gleichen Lohn, die Zahlung eines Weihnachtsgeldes sowie die Übernahme der Reinigungskräfte in die Stammbelegschaft.
„In diesem Kampf haben wir es geschafft, ein Klassenbewusstsein unter uns zu schaffen. Das Bewusstsein, über die Probleme unseres eigenen Lebens hinaus immer daran zu denken, dass wir selber nicht gern in der Situation einiger anderer Kolleginnen und Kollegen wären. Und dass wir für den, der am wenigsten hat, kämpfen müssen.“ Nicht nur kleine Lachfalten zeichnen das runde Gesicht des erst 23-Jährigen, auch Sorgenfalten ziehen sich über seine Stirn. Die harte Arbeit, der Stress der vielen Arbeitskämpfe und die Angst scheinen ihn früh altern zu lassen. Die Angst, krank zu werden, die Arbeit zu verlieren und so nicht mehr den Lebensunterhalt für seine dreiköpfige Familie verdienen zu können.
„He Peruano!“ Bobby winkt einen vorbeigehenden Kollegen heran. „Willst du sehen, wie du gestern gesungen hast?“ Auf seinem Handy zeigt er ein Video, das er in der Mittagspause gefilmt hatte. Am Ende der langen Kantinentische singt Peruano mit einem Mikrofon in der Hand einen berühmten Cumbia-Schlager. Ein anderer gibt den Rhythmus auf einer Küchenreibe vor. Die übrigen Beschäftigten an den vollbesetzten Tischen klatschen mit, grölen und johlen. Einer steigt auf den Tisch und tanzt.
Die Frauen
Auffällig ist, dass fast nur Männer in der Fabrik anzutreffen sind. Die einzige Frauentoilette und Umkleide ist im ehemaligen Bürobereich versteckt. Einige Frauen sind in der Reinigung und der Kantine beschäftigt – aber auch dort sind die Männer in der Mehrzahl. Lediglich die Krankenstation und die Reste der Verwaltungsabteilung sind fest in Frauenhand. Frauen wurden früher aus Prinzip nicht in der Produktion angestellt. Fast keine. 2012 wurde durch ein Versehen die Transsexuelle Tamara angestellt. Nur als Mann verkleidet habe sie die Arbeitsstelle bekommen, erzählt Christian. Als sie dann das erste Mal mit Rock und Handtasche zur Arbeit kam, wollte der Chef sie sofort feuern. Der Betriebsrat verteidigte sie und konnte eine Entlassung verhindern. Neben dem erfolgreichen Abbau von Vorurteilen in der Belegschaft hätten sie gemeinsam durchgesetzt, dass Tamara die Kleidung tragen darf, die sie möchte.
Heute ist neben einem besseren Klima in der Belegschaft noch anderes besser geworden. Die Arbeitszeiten sind kürzer, Urlaub wird oft auch spontan vom Schichtleiter genehmigt, und die Unfallquote konnte gesenkt werden. Wenn jemand seiner alten Tätigkeit aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht mehr nachgehen kann, wird er nicht entlassen, sondern auf einen angemesseneren Posten im Betrieb versetzt. Es wird probiert, nach dem Prinzip „Jeder nach seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen“ zu produzieren, sagt Christian.
Die Bezahlung
Zuletzt hatten die Beschäftigten 2012 eine Lohnerhöhung verlangt, um die Folgen der damals rasant steigenden Inflation auszugleichen. Verhandlungen lehnte die Unternehmensleitung jedoch ab. Sie argumentierte, Donnelley Argentinien sei in „ökonomischer Schieflage“ und müsse sich auf die nächste Krise vorbereiten. Zahlen legte die Geschäftsführung jedoch nicht vor. Kurz darauf habe sie staatliche Hilfeleistungen aus dem „Repro-Fond“ beantragt, mit dem der argentinische Staat schwächelnde Unternehmen pro Beschäftigten mit 2000 Pesos (190 Euro) im Monat subventioniert, um Entlassungen zu vermeiden.
„Wir haben beanstandet, dass sich das Unternehmen die Repro-Gelder erschlichen hat. Das Unternehmen war nicht in finanzieller Schieflage!“ Bobby beugt sich auf seinem Holzstuhl leicht nach vorn und beginnt heftig zu gestikulieren. „Der Staat subventioniert so Lohnsenkungen. Der Repro diente letztendlich einzig dazu, Entlassungen vorzubereiten und die Gewerkschaft zu zerschlagen!“ Aber keine staatliche Stelle habe den Beschwerden der Druckerei-Beschäftigen Aufmerksamkeit geschenkt.
Seit Anfang 2014 hätten dann alle gespürt, wie der Druck der Unternehmensleitung auf sie wuchs. Immer wieder hätten die Chefs verlangt – unter Androhung von Entlassungen – das Tempo der schon zu schnell laufenden Maschinen weiter zu erhöhen. Doch die Techniker weigerten sich. Die Stimmung sei immer angespannter und offen feindselig geworden. Im Mai habe das Unternehmen dann die Fabrik und ihre Büros mit Gittern verbarrikadiert. Alle erwarteten eine Entlassungswelle.
Die Übernahme
Mitte Juni schließlich legte die Unternehmensleitung auf einer Betriebsversammlung die Kündigungspläne auf den Tisch. „Sie wollten 123 Beschäftigte entlassen.“ Christian wird laut und energisch: „Doch wir entgegneten: Wenn sie einen von uns angreifen, greifen sie uns alle an. Und dass hier niemand entlassen wird!“
Es folgten viele Versammlungen der Belegschaft, auf denen sie diskutierten, wie die Entlassungspläne abgewehrt werden könnten. Für den Fall einer möglichen Schließung wurde eine Übernahme durch die Arbeiter/innen diskutiert. Doch kaum eine/r habe sich vorstellen können, dass Donnelley soweit gehen würde.
Verblüfft seien sie daher gewesen, als die Morgenschicht am Sonntag, dem 10. August, vor verschlossenem Tor stand. Der im Fenster klebende Brief schien sie alle verhöhnen zu wollen. Die Unternehmensleitung verkündete in drei Sätzen die Schließung und fristlose Entlassung aller Angestellten. Sofort organisierten sie eine Wache, um den Abtransport der Maschinen zu verhindern. In einer Vollversammlung am 12. August wurde beschlossen, die Fabrik in eigener Regie weiterzuführen.
Die Solidarität
Die graue Wolkendecke, die über der Fabrik hängt, wirkt wie eine Betonmauer. Seit Tagen dringt nicht ein Sonnenstrahl durch. Zwei blaue Schulbusse fahren vor der Fabrik vor. Die Bremsen der Busse quietschen. Aus ihnen steigen die Arbeiter der Nachmittagsschicht. Große Transparente, Schilder und Pauken manövrieren sie aus den engen Bussen heraus. Am Morgen haben sie vor dem Verwaltungsgericht demonstriert. Lautstark Parolen singend, begleitet von Trommeln und Feuerwerk. Morgens demonstrieren für die Anerkennung der Kooperative und die Verstaatlichung, nachmittags Schicht in der Fabrik. Und das alles lange, ohne einen Lohn ausgezahlt zu bekommen. Fast drei Monate blockierte das Verwaltungsgericht die Gründung der Kooperative und die Zahlung der Löhne.
In dieser Druckerei laufen die Dinge anders
Ohne eine breite Solidaritätskampagne, die vor allem von den Frauen der Arbeiter organisiert wurde, hätten sie wahrscheinlich nicht durchgehalten. Zwar sprangen Abgeordnete der PTS schnell mit großzügigen Spenden für die Streikkasse ein, doch der finanzielle Bedarf konnte damit nicht gedeckt werden. Das Frauen-Komitee ging von Universität zu Universität, die Frauen hielten Vorträge und sammelten Spenden. Sie warben um Solidarität bei anderen Gewerkschaften und gingen in Großmärkte, um kollektiv Essen zu kaufen. Immer wieder diskutierten sie auch untereinander und mit den Männern die Rolle der Frau in der Gesellschaft und in der Fabrik. Ohne die Frauen hätten die Arbeiter es womöglich keinen Monat geschafft. Denn von welchem Geld sollten die hungrigen Mäuler zu Hause gestopft werden?
Von den Universitäten kam neben Sach- und Geldspenden viel intellektuelle Hilfe. Wirtschaftsstudierende der Universität von Buenos Aires führten die Beschäftigten in die Buchführung ein. In Mendoza bewirkten Studierende und Lehrende, dass künftig alle Publikationen der Universität bei Donnelley gedruckt werden. Ähnliche Abkommen wurden auch mit einzelnen Lehrer/innenverbänden getroffen. Die Kooperative gewann so einige neue Kunden. Gewerkschaftliche Solidarität hilft ihr, ihre wichtigsten Alt-Kunden zu halten: Die Drucker aller anderen Großdruckereien weigern sich, Erzeugnisse der Ex-Donnelley-Kunden zu produzieren.
Die Aufgaben
Bobby und seine Kollegen fragen sich jetzt öfter, wozu sie ihre Maschinen eigentlich nutzen wollen. Nur, um mit ihnen Geld zu machen? Oder auch, um mit ihnen Probleme ihres Landes zu lösen? „Warum fordern wir die Verstaatlichung? Weil wir die Möglichkeit haben, Bücher zu drucken. Für die arme Bevölkerung unseres Landes. Wir können gratis Schreibhefte an den Schulen der armen Stadtteile verteilen.“ 10.000 kostenlose Schreibhefte haben sie bereits an den Schulen der ärmsten Nachbarbezirke verteilt.
Bobby ist sichtlich stolz auf das, was sie geschaffen haben. Letztendlich zeigen sie, dass Produktionsmittel nicht per se privat sein müssen. Und vielleicht auch, dass es Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise gibt. Ohne Hektik nimmt Bobby dicke Stapel einer Broschüre vom Fließband und legt sie auf eine Palette. Ein Kollege, der die Palette auswechseln will, stellt sich mit ihm ans Band und hilft. Sie witzeln und verabschieden sich mit einem Lachen. Bobby lehnt sich an die Maschine, um kurz zu verschnaufen. Mit dem Ärmel wischt er sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Weißt du, die Fabrik soll doch nicht dazu da sein, uns auszubeuten. Sondern um uns allen ein besseres Leben zu gewährleisten.“
von Simon Zamora Martin – mit freundlicher Genehmigung des Autors
zuerst erschienen in der Zeitung ver.di publik