Die neue Etappe der politischen Krise in der Türkei

16.09.2015, Lesezeit 15 Min.
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//TÜRKEI: Trotz der Ankündigung der Neuwahlen hat sich die militarisierte Lage nicht im Geringsten normalisiert. Ganz im Gegenteil: Es herrscht im ganzen Land – besonders in der nordkurdischen Region – eine tiefgreifende politische Krise. //

Die Kämpfe zwischen der türkischen Armee und der PKK haben sich auf das ganze Land ausgebreitet, mit landesweiten rassistischen Attacken auf Kurd*innen. Der Auslöser dieser letzten Welle war der Angriff der PKK auf ein Militärkonvoi in Daglica. Nach Angaben des türkischen Militärs seien 16 Soldaten getötet worden, die PKK spricht von 31 Soldaten. Nach der Waffenruhe im Jahr 2013 zwischen den beiden Akteuren ist das der schwerste Konflikt bisher. Interessant dabei war die Aussage von Erdogan am Tag des Angriffs: „Wenn eine Partei es geschafft hätte, 400 Abgeordnete oder die (nötige) Anzahl, für eine (neue) Verfassung zu bekommen, würde die Situation heute ganz anders aussehen.“

Im Westen des Landes herrscht eine rassistische Welle, geprägt von faschistischen Angriffen gegen die kurdische Bevölkerung und die Parteibüros der HDP. Im kurdischen Teil des Landes herrscht ein Ausnahmezustand, geprägt von Ausgangssperren und Massakern.

„Wir wollen keine Operationen, wir wollen Massaker!“

Die bisherige Bilanz sieht furchtbar aus: Im Westen des Landes wurden bisher mehr als 400 Parteibüros der HDP, Geschäfte der Kurd*innen, die Busse und Autos mit Kennzeichen aus kurdischen Städten sowie viele Wohnungen der Kurd*innen von faschistischen Schlägertruppen in Brand gesetzt. In überwiegend von Kurd*innen und Alevit*innen bewohnten Stadtvierteln der westlichen Städte herrscht eine Lynchstimmung. Die kurdischen Saisonarbeiter*innen, die von der türkischen Bourgeoisie vor allem im Bausektor als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden und unter miserablen Bedingungen ihre Arbeitskraft verkaufen, erleben täglich Angriffe von den „Grauen Wölfen“ oder von Erdogan organisierten Schlägertruppen. Es gibt inzwischen hunderte Verletzte und dutzende Tote. Die faschistischen Schlägertruppen fassen es kurz in Worte: „Wir wollen keine Operationen, wir wollen Massaker.“ Und die türkische Polizei spielt dabei eine beobachtende Rolle.

Im kurdischen Teil des Landes verschärft sich die Besatzung: Nach den schweren Gefechten zwischen Guerillas und türkischer Armee wurden viele Teile der Region zur „militärischen Sicherheitszone“ erklärt. Am brutalsten sieht die Lage in Cizre aus: In der nordkurdischen Stadt an der syrischen Grenze wurde am 4.September eine Ausgangssperre verhängt, da die kurdische Bewegung dort einseitig ihre „Autonomie“ ausgerufen hat und die Guerillas sich de facto für die Sicherheit des Gebiets verantwortlich erklärt haben. Daraufhin wurden 110.000 Einwohner*innen vom türkischen Staat als Geisel genommen: Acht Tage lang durften weder die Einwohner*innen die Stadt verlassen, noch hat das Militär erlaubt, dass Kurd*innen und die HDP in die Stadt einnreisen. Das türkische Militär hat in dieser Zeit willkürlich auf alle das Feuer eröffnet, die sich auf die Straße trauten. So wurden mehr als 20 Zivilist*innen erschossen, darunter ein Kleinkind. Nach Angaben unterschiedicher Menschenrechtsvereine hatten die Menschen keinen Zugang zu Telefon, Internet und Elektrizität. Die Bevölkerung leidete unter Mangel an Wasser, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Die Bürgermeisterin von Cizre, Leyla Imret, wurde auf Anweisung des Innenministers von ihrem Amt entbunden. Der türkische Staat hat gegen die HDP-Politikerin Ermittlungen wegen Unterstützung der PKK eingeleitet.

Die türkische Polizei hielt die HDP-Delegation auf, die mit Fahrzeugen in die Stadt Cizre gelangen wollte. Daraufhin startete die HDP-Delegation einen Fußmarsch, da sie ein Massaker befürchteten. Zur Delegation gehörten außer dem Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas auch zwei HDP-Minister aus der Wahlregierung. Obwohl der Widerstand des kurdischen Volkes die Ausgangssperre nach acht Tagen lösen konnte, hat der Gouverneuer von Şırnak am 13. September wieder eine Ausgangssperre ausgerufen.

Die Angriffe dienen Erdogan zur weiteren Bonapartisierung

Aktuelle Stimmen aus den Reihen der AKP bringen den Hintergrund des Militarisierungskurses ans Licht, nämlich die Schaffung einer Atmosphäre der Angst, die die AKP zurück an die Alleinregierung holt. So sorgte die Aussage von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der beim Sonderparteitag wieder zum Vorsitzenden der Partei gewählt wurde, für eine große Unruhe innerhalb der oppositionellen Parteien: „Unsere Stimmen steigen. Wir tun unser möglichstes, um die Alleinregierung zu bilden.“

Der AKP-Abgeordnete Abdurrahim Boynukalın stand während des Angriffs auf das Zeitungsgebäude von Hürriyet an vorderster Front der AKP-Banden. Er erklärte in seiner Rede alle Oppositionellen zu Terroristen und fügte noch hinzu: „Sie sagen, dass der Staatspräsident das alles nur deshalb tut, weil er kein Präsident im Präsidialsystem geworden ist. Und wir sagen ihnen: Egal wie die Neuwahlen am 1. November ausgehen: Wir werden dich zum Präsidenten machen.“

Die Hetzpropaganda der Pro-AKP-Journalist*innen geht so weit, dass kritische Journalist*innen nicht nur um ihren Beruf, sondern auch um ihr Leben fürchten müssen.

Erdogan spielt mit offenen Karten: Obwohl sein Modell der Außenpolitik gescheitert ist, die „kritischen Aussagen“ der Imperialismen sich vermehren, die säkulare Bourgeoisie TÜSIAD an der Schwächung der AKP besonderes Interesse bekundet, die Wachstumsraten kontinuierlich und deutlich sinken, seine Partei ihre 13-jährige Alleinregierung verloren hat und letztendlich sein größtes Projekt. der „Friedensprozess“, nun in Trümmern liegt, wird er nicht freiwillig seinen Anspruch auf die ganze Macht aufgeben. In der Periode seines Niedergangs verschärft er die Aggression, besonders brutal sehen die Angriffe in den Städten aus, wo die HDP am Stärksten ist. Für Erdogan geht es weiter um das Präsidialsystem, die letzte Linie aber ist zumindest die Alleinregierung, die seine de-facto-Rolle immerhin erlaubt.

Er will nun auch die Wähler*innenschaft, die er an die HDP verloren hat, durch Einschüchterung zurück zur AKP „zwingen“. Zum Anderen will er den Ausnahmezustand in einigen kurdischen Städten aufrechterhalten, um bei den Wahlen am 1. November jegliche Wahlfälschungen durchzusetzen. Er ist bereit, alles aufs Spiel zu setzen, um die Macht in den eigenen Händen zu zentralisieren. Dabei veranschaulichen die Angriffe im Westen der Türkei den Fortschritt von Erdogan bei der Gründung eigener paramilitärischer Truppen. Es ist offensichtlich, dass die faschistischen Provokationen der Schlägertruppen von einem Zentrum organisiert werden: Recep Tayyip Erdogan.

HDP in der Sackgasse: Ein Programm der Untätigkeit

Die HDP hat keine Antwort auf die Militarisierung des Landes. Sie hat sich nach dem Bruch der Waffenruhe trotzdem an der Wahlregierung beteiligt – aus der Illusion heraus, den Krieg Erdogans damit abschwächen zu können. Das funktioniert in der Tat nicht. Im Gegenteil: Der Krieg hat sich eher verschärft. Das ist wieder eine Bestätigung, dass der Elektoralismus die Bonapartisierung nicht im Geringsten schwächen kann. Die strategische Orientierung der HDP, den türkischen Staat im parlamentarischen Rahmen zu demokratisieren, liegt in Trümmern. Der „Friedensprozess“ ist bankrott.

Trotz der faschistischen Angriffe ändert die HDP nichts an ihrm bürgerlich-pazifistischen Kurs: Statt den Einfluss auf die Gewerkschaften zum Generalstreik gegen Erdogans Krieg auszunutzen, wiederholt sie die Aufrufe zur Verhandlung. Wen die HDP damit adressiert, ist unklar. Einerseits nennt sie Erdogan einen Mörder, andererseits ruft sie zum „Friedensprozess“ auf, der von diesem Mörder verlassen wurde.

Auch innerhalb der kurdischen Bewegung entstehen neue Widersprüche: Die HDP entfernt sich politisch langsam von der PKK, während sie das „Massenparteikonzept“ vorantreibt und neue Sektoren wie die historisch dem türkischen Staat nahestehenden Teile der kurdischen Bourgeoisie oder türkische Liberalen erreicht. Dieser Kurs produziert zwei Tendenzen innerhalb der Bewegung, die in der aktuellen politischen Krise des Landes miteinander in Konfrontation geraten. In den letzten Zeiten hat sich die PKK-Führung mehrfach kritisch zum versöhnlerisch-passiven Kurs der HDP geäußert: So sagte Duran Kalkan, Führungsmitglied der PKK, dass „die rechtlichen und sozialen Verbesserungen der vergangenen Jahre durch den Kampf der PKK ermöglicht wurden, und nicht durch politische Verhandlungen. Die HDP hat keine Erfolge vorzuweisen, die der Partei das Recht geben würden, Forderungen wie Waffenniederlegung zu stellen.“

Obwohl sie sie einst initiierte, kann die PKK jetzt die HDP nicht mehr unter Kontrolle halten. Momentan sind aber nur PPK-Kämpfer*innen auf der Straße, keine Massen. Die PKK ruft zur Gründung von Selbstverwaltungskomitees, Autonomie und Massenmobilisierungen auf, während die HDP sich mit dem elektoralen Kurs begnügt. Im Westen des Landes finden daher keine aktiven Massenmobilisierungen statt.

Die PKK auf der anderen Seite stiftet auch nur Verwirrungen. Die Widersprüchlichkeit der Kampftaktik der PKK zeigt sich in Zick-Zack-Kursen: Die PKK ruft in einigen Städten Nordkurdistans zur Autonomie auf, während sie aber den US-Imperialismus dazu aufruft, als Vermittler zu agieren, um den Friedensprozess wiederzubeleben. So betonte Cemil Bayik, Nr.2 der PKK, im Interview mit der deutschen Zeitung „Die Welt“: „Einen einseitigen Waffenstillstand wird es nicht mehr geben. Auch die Türkei müsste offiziell einen Waffenstillstand verkünden. Eine unabhängige Kommission müsste dessen Einhaltung überwachen. Dann müssen die Verhandlungen unter gleichen und freien Bedingungen stattfinden, der Vorsitzende Apo muss als Verhandlungsführer anerkannt werden. Und wir brauchen eine dritte Partei als Vermittler. Nur so können wir sichergehen, dass die Türkei nicht plötzlich alles wieder bestreitet.“

Die radikale Linke ist durch „faktische Demonstrationsverbote“ in der letzten Woche zurückgedrängt. Es gibt zwar kein gesetzliches Verbot, aber es gibt die „Atmosphäre des allgemeinen Demonstrationsverbots“, da die Faschist*innen in Kollaboration mit der Polizei stark auftreten. Die Gewerkschaften befinden sich im „langen Schlaf“. Bis auf schriftliche Stellungnahmen gibt es nicht mal Tendenzen in Richtung der Radikalisierung, während Erdogan ausgerüstet mit allen Mitteln der Macht einen offenen Krieg anführt. Die Bonapartisierung ernährt sich von Massakern und Ausnahmezuständen.

Die faschistischen Angriffe haben sich inzwischen auch auf Europa ausgeweitet. Kurdische und linke Aktivist*innen, die europaweit für Solidarität mit dem kurdischen Volk und zum Protest gegen die Kriegspolitik Erdogans demonstriert haben, wurden von türkischen Faschist*innen brutal angegriffen. Am 12.September wurde ein kurdischer Aktivist aus Rojava in Hannover bei der Auseinandersetzung zwischen Kurd*innen und türkischen Faschist*innen mit einem Messer niedergestochen. Nach aktuellen Meldungen soll er die Lebensgefahr überwunden haben. Ein türkischer Nationalist ist in Bern in eine Menschenmenge gerast, fünf Menschen wurden dabei schwerverletzt. Die „Grauen Wölfe“ versammeln sich europaweit, um die Lynch-Kampagne in der Türkei fortzusetzen. Dabei schaut die Polizei nur zu, da die PKK auf der Terror-Liste steht und die kurdischen Aktivist*innen kriminalisiert werden.

Die Einheitsfront ist eine dringende Aufgabe

Wie lange wird Erdogan die heutige Offensive im Dienste der Bonapartisierung aufrecht erhalten können? Wie lange noch können die faschistischen Schlägertruppen im Dienste Erdogan massakrieren? Wie lange wird der Chauvinismus ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zum gemeinsamen Kampf der türkischen und kurdischen Arbeiter*innen sein? Wie lange kann der arbeiter*innenfeindliche Erdogan seine Macht bewahren? Auf diese Fragen kann es unter heutigen Bedingungen nur eine Antwort geben: den Aufbau einer antifaschistischen Einheitsfront mit einem Aktionsprogramm.

Die jetzt notwendigen Selbstverteidigungsstrukturen dürfen nicht nach dem Verständnis der HDP als bloßer Verteidigungsblock organisiert werden. Es geht vielmehr darum, sie aktiv in die Betriebe, Schulen, Universitäten und Gewerkschaften hineinzutragen und ein Aktionsprogramm zu entwickeln. Sie müssen ein Mittel zum aktiven Gegendruck, zur Eroberung der Stellungen im Kampf gegen den kapitalistischen Staat, werden.

Die Einheitsfront muss den Widerstand gegen Erdogan und die türkische Bourgeoisie organisieren. Das einzige Heilmittel der Arbeiter*innen und Unterdrückten ist eine gemeinsame Front gegen den Krieg und die Angriffe der Faschist*innen, aber auch gegen Prekarisierung, Arbeitslosigkeit, den antidemokratischen Kurs Erdogans, Rassismus, sexistische und homo- und transphobe Angriffe.

Die Hoffnung, Erdogan mittels Wahlen zu entmachten hat sich als illusorisch erwiesen. Er lehnt alle „Spielregeln“ ab, wenn es um die Bewahrung seiner Macht geht. Daher steht die Notwendigkeit der Einheitsfront auf der Tagesordnung. Sie soll sich konstituieren in den Betrieben, Gewerkschaften, Schulen und Universitäten um auf die Straße mit den Kampfmitteln der Streiks und Besetzungen zu mobilisieren und für eine verfassungsgebende Versammlung zu kämpfen.

Die heutige Belagerung mehrerer kurdischer Städte ist möglich, weil der türkische Staat eine Besatzer-Rolle spielt. Der türkische Staat hat kein Interesse daran, das türkische Militär und die Polizei aus Nordkurdistan zurückzuziehen, da sie sonst de facto ihre innere Kolonie verliert. Genausowenig kann er an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Deshalb muss die Einheitsfront auch für das bedingungslose Recht auf nationale Selbstbestimmung kämpfen – also auch das Recht auf nationale Unabhängigkeit.

Innerhalb dieser Einheitsfront müssen Revolutionär*innen für ein Aktionsprogramm gegen den Kapitalismus und Imperialismus kämpfen. Neben der Selbstverteidigung und dem Kampf gegen den Krieg muss auch der Kampf für die elementaren demokratischen Rechte der Unterdrückten sowie das sofortige Ende der kapitalistischen Kriegspolitik, die Übernahme der Militärstützpunkte der Imperialismen, die Streichung der Auslandsschulden, die Verstaatlichung der Banken und Betriebe unter Arbeiter*innen, die Landreform und der industrielle Aufbau nach einem sozialistischen Plan der Arbeiter*innen und Bauernschaft geführt werden. Gegen die Barbarei und Ausplünderung des Imperialismus in der Region, die Flucht, Elend und Kriege produziert, muss die Perspektive der sozialistischen Föderation des Nahen und Mittleren Ostens aufgegriffen werden. Eine revolutionäre Partei, die für diese Perspektive kämpft, kann nur aus den Reihen der proletarischen Einheitsfront mit einem Programm der Klassenunabhängigkeit entstehen.

Es ist kein Zufall, dass die rassistische Welle sich auf Europa ausdehnt. Hierzulande besteht die Aufgabe darin, gegen die rassistischen und staatlichen Angriffe Solidaritätskampagnen zu organisieren. Das Verbot der PKK und die Kriminalisierung der kurdischen Aktivist*innen schwächen den Widerstand in Kurdistan. Die Militärpräsenz des deutschen Imperialismus in der Region verschärft die Kriegssituation. Die Waffenlieferungen an den türkischen Staat werden im Kampf gegen die kurdische Nation genutzt. Wir haben hierzulande die Aufgabe, den deutschen Imperialismus aus der Region zu räumen und mit Mobilisierungen das PKK-Verbot aufzuheben.

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