Vielfältige Gesichter der Prekarisierung

10.02.2016, Lesezeit 8 Min.
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KLASSENKAMPF: Während die Regierung sich für die niedrigsten offiziellen Erwerbslosen­zahlen aller Zeiten feiert, gab es in Wahrheit noch nie so viele Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Eine neue Generation von Arbeiter*innen sucht nach Wegen, sich dagegen zu wehren.

Ende 2015 waren laut offiziellen Stellen 2,6 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos – die niedrigste Zahl seit über 20 Jahren. Doch schon seit Jahren werden diese Zahlen beschönigt: Laut Zahlen der Linkspartei werden regelmäßig mehr als 700.000 Menschen aus der Statistik herausgerechnet: Menschen über 58, Ein-Euro-Jobber*innen, krank gemeldete Erwerbslose, Menschen in Weiterbildungs- oder „Aktivierungs“-Maßnahmen und viele mehr. Zudem werden mehr als 300.000 Menschen nicht gezählt, weil sie aufgegeben haben, Arbeit zu suchen. Zu den 2,9 Millionen im Januar 2016 als arbeitslos ausgewiesenen Personen kommen also noch mindestens eine Million weitere Menschen hinzu.

Doch auch diese Zahlen sind noch zu niedrig: Laut offiziellen Zahlen sind mehr als 1,3 Millionen Hartz-IV-Empfänger*innen erwerbstätig. Sie beziehen nur deshalb ALG II, weil ihr Lohn so niedrig ist, dass sie „aufstocken“ müssen.

Insgesamt gehen Arbeitsmarkt-Statistiker*innen davon aus, dass es in Deutschland zwischen 6,6 und 7 Millionen Menschen gibt, die in so genannten Mini-Jobs oder anderen Formen von Unterbeschäftigung arbeiten – sie können von ihrer Arbeit schlicht nicht leben. Zusammen mit den fast vier Millionen Arbeitslosen ergibt das eine ultraprekarisierte Schicht der Arbeiter*innenklasse von über zehn Millionen Menschen.

„Atypische Beschäftigung“

Doch Prekarisierung geht noch weiter. Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung zu sogenannten „atypischen Beschäftigungsverhältnissen“ zeigen, dass fast 40 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland in Teilzeit, Leiharbeit oder Minijobs als Hauptbeschäftigung tätig sind. Das ist das „Wirtschaftswunder“ einer der größten Volkswirtschaften der Welt.Gerade junge Beschäftigte haben darunter zu leiden. Bei den unter 25-Jährigen liegt der Anteil derjenigen, die nur über einen befristeten Arbeitsvertrag, eine Teilzeitstelle, einen Minijob und/oder einen Zeitarbeitsvertrag verfügen, laut DGB bei 46,4 Prozent.

Neben Befristung – der häufigsten prekären Beschäftigungsform – und Leih-/Zeitarbeit nimmt in den letzten Jahren jedoch eine weitere Form von Prekarisierung immer mehr zu: Werkverträge und Scheinselbständigkeit. Seit einem BAG-Urteil von 2010 konnten Leiharbeiter*innen rückwirkend gleiche Bezahlung wie die Stammbelegschaft einklagen. In der Folge wurden diese Verträge immer häufiger durch Werkverträge ersetzt.

Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Werkverträgen: Verträge, die an Unternehmen gehen, und Verträge an einzelne Beschäftigte. Zentral ist bei beiden, dass bei einem Werkvertrag nicht das Arbeitsverhältnis im Mittelpunkt steht, sondern das „Werk“, das Endprodukt. Werkverträge werden beispielsweise in der Gebäudereinigung, der Sicherheit, in Callcentern oder Kantinen an Fremdfirmen vergeben. Sie sind damit ein Werkzeug für Outsourcing und das Unterlaufen von Tarifverträgen. Auch wenn keine verlässlichen Statistiken existieren, stellen Werkvertragsunternehmen in vielen Branchen – beispielsweise in Schlachthöfen – sicherlich inzwischen die Mehrheit der Beschäftigten.

Immer häufiger werden Werkverträge auch in solchen Bereichen eingesetzt, wo sie reguläre Beschäftigung im Stammbetrieb ersetzen.Selbst in industriellen Kernbereichen gibt es immer mehr Werkverträge. Dabei werden nicht nur Arbeitslosen- und Sozialversicherung unterlaufen, auch die betriebliche Mitbestimmung im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes findet keine Anwendung mehr.

Prekarisierung als Union Busting

Die Zahlen zu prekärer Beschäftigung sind alarmierend. Neu sind sie jedoch nicht. Schon seit den 1990er Jahren nehmen sogenannte „atypische“ Arbeitsverhältnisse zu. Mit der rot-grünen Agenda 2010, den Hartz-Gesetzen und der legalisierten Massenprekarisierung durch das „Teilzeit- und Befristungsgesetz“ (TzBfG) und das „Arbeitnehmerüberlassungsgesetz“ (AÜG) haben sich diese Beschäftigungsformen jedoch erst endgültig durchgesetzt.

Sie sind zur wichtigsten Waffe der Kapitalist*innen zur Wahrung ihrer Profite und zur Unterdrückung gewerkschaftlicher Aktivität im Betrieb geworden.

Viele Beispiele – von Amazon bis zum Botanischen Garten der Freien Universität Berlin – zeigen, dass Befristung, Leiharbeit und Werkverträge nicht nur Maßnahmen zum Geld sparen sind. Bei einigen Unternehmen ist die Fremdvergabe unterm Strich sogar teurer als das Weiterführen regulärer Beschäftigungsverhältnisse. Doch darum geht es auch nicht ausschließlich: Unsichere Beschäftigungsverhältnisse sorgen vor allem auch für geringere gewerkschaftliche Organisierung.

Zum Einen ist offensichtlich, dass Arbeiter*innen, die Angst darum haben müssen, ob ihr Arbeitsvertrag verlängert wird, weniger häufig gewerkschaftlich aktiv werden. Zum Anderen werden aber auch schon gewerkschaftlich Aktive und Betriebsratsmitglieder durch Befristung und Outsourcing angegriffen.

Outsourcing unter Palmen

Ein besonders illustratives Beispiel ist der aktuelle Arbeitskampf beim Botanischen Garten der FU Berlin. Schon 2007 wurden die Abteilungen Reinigung, Technik und Besucherservice in eine Tochtergesellschaft ausgegliedert, die weiterhin zu 100 Prozent der Universität (und damit dem Land Berlin) gehört. Die dort angestellten Beschäftigten verdienen bis zu drei Viertel weniger als diejenigen, die noch einen Vertrag mit der Universität haben.

Doch diese Dumpinglöhne sind der FU noch nicht genug. Seitdem die Beschäftigten der „Betriebsgesellschaft Botanischer Garten und Botanisches Museum“ (BG BGBM) sich für bessere Bedingungen organisieren, bläst die Geschäftsführung zum Kampf. Die Reinigung soll komplett ausgelagert und durch Werkvertragsunternehmen übernommen werden. 31 Beschäftigte stehen vor betriebsbedingten Kündigungen, darunter Betriebsratsmitglieder. Besonders interessant: Mit einer externen Reinigungsfirma würden die Lohnkosten sogar steigen, da der allgemeinverbindliche Tarifvertrag der Reinigungsbranche höhere Löhne anbietet als das, was die BG BGBM-Beschäftigten aktuell verdienen.

Das zeigt eindrücklich, dass es hier nicht mehr vorrangig um Lohndumping geht – was schlimm genug wäre –, sondern gerade darum, die entstandene gewerkschaftliche Aktivität und die Betriebsratsstruktur zu zerschlagen.

Die Beschäftigten haben das erkannt und organisieren gemeinsam mit solidarischen Studierenden Proteste gegen den anti-gewerkschaftlichen Kurs von Geschäftsführung, Uni-Leitung und Berliner Senat. Ein Sieg wäre auch ein Sieg gegen Union Busting mittels Prekarisierung.

Befristung als Kampfmittel

Doch nicht nur bei relativ kleinen Unternehmen wie dem Botanischen Garten – statistisch gesehen setzen vor allem kleine und mittlere Betriebe atypische Beschäftigungsverhältnisse ein – werden unsichere Arbeitsverhältnisse als Kampfmittel gegen eine aktive Belegschaft genutzt. Der multinationale Konzern Amazon ist ein weiteres Beispiel.

Seit 2013 gibt es einen stetigen Arbeitskampf bei dem weltgrößten Online-Händler. Acht von neun deutschen Versandstandorten befinden sich inzwischen in Streikauseinandersetzungen. Amazon nutzt verschiedenste anti-gewerkschaftliche Methoden, von Diffamierungen der Gewerkschaft, über arbeitgeberfreundliche Betriebsratslisten, bis hin zu gezieltem Mobbing gegen Einzelpersonen. Dennoch konnte die Streikfront bisher nicht gebrochen werden, auch wenn die Ausweitung des Arbeitskampfes an vielen verschiedenen Stellen stockt.

Der jüngste Standort, Brieselang bei Berlin, hat dagegen bis heute keine Streikfront aufbauen können, unter anderem wegen eines weiteren Griffs der Amazon-Geschäftsführung in die anti-gewerkschaftliche Trickkiste: Befristung als Möglichkeit gewerkschaftliche Aktivist*innen loszuwerden.

Es begann alles Ende 2014: Trotz ihrer befristeten Arbeitsverträge brachten mehrere Mitglieder der Gewerkschaft ver.di in Brieselang den Mut auf, offen als Gewerkschafter*innen für die Betriebsratswahlen zu kandidieren. Trotz mehrerer arbeitgeberfreundlicher Listen gelang gewann ver.di überraschenderweise sogar mit knapper Mehrheit, danke der Kandidatur der befristet Beschäftigten.

Amazon nutzte jedoch die von der rot-grünen Regierung geschaffenen Möglichkeiten des TzBfG gnadenlos aus und verweigerte im Dezember 2014 und Januar 2015 fünf Betriebsratsmitgliedern die Weiterbeschäftigung. Die Geschäftsführung wiederholte dieses Spiel im Juni 2015 mit zwei weiteren Gewerkschaftsmitgliedern, darunter ein Betriebsratsmitglied. Die betroffenen Kolleg*innen starteten daraufhin noch im Dezember 2014 eine innerbetriebliche Kampagne mit dem Titel „Wir wollen bleiben“ und forderten, bis zum Ende ihres gewählten Betriebsratsmandats weiterbeschäftigt zu werden. Hinzu kam eine Öffentlichkeitskampagne gemeinsam mit dem „Berliner Solidaritätskreis für die Beschäftigten bei Amazon“.

Klassenjustiz bekämpfen

Nachdem ihnen die Weiterbeschäftigung verweigert worden war, zogen sie zudem vor das Arbeitsgericht. In erster Instanz wurden ihre Ansprüche jedoch abgelehnt, und auch in zweiter Instanz ist bei einigen Betroffenen das negative Urteil schon gefällt worden. Die Richter*innen folgten zwar in den meisten Fällen der Argumentation der Beschäftigten, dass eine Benachteiligung durch ihre Tätigkeit als Betriebsratsmitglieder wahrscheinlich vorläge, doch solange diese nicht eindeutig bewiesen werden könne, sei Amazon im Recht.

Der Klassencharakter des Teilzeit- und Befristungsgesetzes und weiterer Gesetze zur Zementierung prekärer Beschäftigung wird somit klar. Sie sind Instrumente der Klassenherrschaft nicht nur im ökonomischen Sinne, da sie Arbeitsbedingungen festschreiben, die die Profitmarge des Kapitals erhöhen, sondern auch in dem Sinne, dass sie eindeutig zur Zerschlagung der ureigenen Strukturen der Arbeiter*innenklasse genutzt werden.

Der Kampf gegen Befristung, Werkverträge und andere prekäre Arbeitsverhältnisse kann deshalb nicht nur auf der Ebene des einzelnen Betriebs geführt werden, sondern muss Teil einer gesamtgesellschaftlichen Kampagne sein, die diese Gesetze des Kapitals zurückschlägt.

Veranstaltung am 18.2. in Berlin

Ausbeutung – Prekarisierung – Widerstand: Kampfstrategien von (A)mazon bis (Z)alando:

Austausch mit Beschäftigten zahlreicher Branchen über Kampferfahrungen, Solidarität und internationale Vernetzung

Donnerstag, 18. Februar 2016, 19-21:30 Uhr
Franz-Mehring-Platz 1 (Seminarraum 1)

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