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Wer massakrierte 30.000 Menschen in Paris?

28.11.2015, Lesezeit 6 Min.
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Der französische Staatspräsident François Hollande schwört, dass seine Regierung den Terrorismus besiegen wird. Doch was ist, wenn die französische Regierung selbst ihre Bevölkerung terrorisiert? Letzte Woche haben wir beschrieben, wie diese Regierung im Jahr 1961 mindestens 200 Algerier*innen bei einer Demo in Paris ermordete. Doch 1871 veranstaltete die herrschende Klasse Frankreichs ein noch viel grausameres Massaker.

Als am 18. März 1871 die Morgendämmerung einbrach, hatten die Pariser*innen keine Herrscher*innen mehr. In der Nacht hatten sie die Truppen des französischen Ministerpräsident Adolphe Thiers aus der Stadt gejagt. Damit war die Hauptstadt des ehemaligen Kaiserreichs in den Händen des Proletariats.

Eine Woche zuvor war Thiers zusammen mit seinen Generälen und Beamten aus der Hauptstadt ins benachbarte Versailles geflohen, nachdem die Pariser Bevölkerung seine Kapitulation vor der preußischen Armee nicht akzeptieren wollte.

Als Thiers General Vinoy in der Nacht vom 18. März dann versuchte, die aus Bürger*innen zusammengesetzte Nationalgarde zu entwaffnen, rebellierten sie.

Das Zentralkomitee der Nationalgarde rief daraufhin die Kommune ins Leben. Eine Woche später wurde eine neue Regierung von der Bevölkerung gewählt. An dieser Stelle kann Karl Marx die Geschichte übernehmen, der die Erfahrungen der Kommune in seinem Buch Der Bürgerkrieg in Frankreich bilanzierte:

Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.

Die neue Regierung, die am 28. März 1871 ihre Arbeit aufnahm, war nicht nur demokratischer als die alte. Die Kommune stützte sich auf eine andere Klasse: nicht mehr die Banker*innen und Kapitalist*innen oder gar der alte Adel, sondern die Arbeiter*innen hatten die politische Macht. Friedrich Engels bezeichnete diese Regierungsform rückblickend als das erste historische Beispiel der „Diktatur des Proletariats“.

Es handelte sich um eine Herrschaft der breiten Mehrheit der Stadtbevölkerung, gegen die kleine Minderheit der Ausbeuter*innen und ihrer Helfershelfer*innen. Entsprechend konnte sie mit der Umsetzung eines demokratischen und sozialen Programms beginnen, das auch in der heutigen Welt ihresgleichen sucht. W.I. Lenin fasste dieses Programm 40 Jahre später zusammen:

Die Kommune ersetzte das stehende Heer, dieses blinde Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen, durch die allgemeine Volksbewaffnung. Sie proklamierte die Trennung von Kirche und Staat, […] sie verlieh der Volksbildung einen rein weltlichen Charakter und versetzte hierdurch den Gendarmen im Ornat einen empfindlichen Schlag. Auf rein sozialem Gebiet vermochte die Kommune nur wenig zu tun; aber auch dieses Wenige offenbart mit genügender Klarheit ihren Charakter als Volks-, als Arbeiterregierung: Verboten wurde die Nachtarbeit in den Bäckereien, aufgehoben das System der Geldstrafen, diese zum Gesetz erhobene Ausplünderung der Arbeiterschaft; verkündet wurde schließlich das berühmte Dekret, nach dem alle Fabriken, Betriebe und Werkstätten, die von ihren Besitzern verlassen oder stillgelegt worden waren, an Arbeitergenossenschaften zur Wiederaufnahme der Produktion übergeben wurden. Gleichsam, um ihren Charakter einer wahrhaft demokratischen, proletarischen Regierung zu betonen, setzte die Kommune fest, daß die Gehälter aller Verwaltungs- und Regierungsbeamten den normalen Arbeitslohn nicht überschreiten […].

Doch in Versailles nahm die Thiers-Regierung ebenfalls ihre Arbeit auf. Sie wollte die neue Regierung der Arbeiter*innen in Blut zu ertrinken. Hilfe bekam sie von Bismarcks Truppen, mit denen sie sich bis vor kurzem im Krieg befunden hatte. Die deutschen und französischen Kapitalist*innen erkannten trotz aller Differenzen ihre gemeinsamen Interessen als Klasse.

Die Kommunard*innen legten, trotz ihres endlosen Muts, nicht die gleiche Entschlossenheit an den Tag wie ihre Gegner*innen. (Schließlich hat die Bourgeoisie mehr Klassenbewusstsein und Erfahrung mit Herrschaft als das Proletariat.) In die Offensive gingen sie nicht, um die Kapitalist*innen in Paris vollständig zu enteignen und die konterrevolutionäre Regierung in Versailles anzugreifen.

In den Worten Lenins: „Die bürgerliche Gesellschaft konnte […] nicht ruhig schlafen, solange auf dem Pariser Rathause die rote Fahne des Proletariats wehte.“ So wurde die Stadt von reaktionären Söldnern angegriffen. Die Arbeiter*innen wehrten sich heftig. Und besonders die zum politischen Leben erwachten proletarischen Frauen, die mit Waffen kämpften, waren ein Schreckgespenst für die Bourgeoisie.

Doch bis Anfang Mai wurde die Stadt in harten Kämpfen von der Soldateska erobert. Nun veranstaltete die siegreiche Konterrevolution ein beispielloses Massaker: In der „blutigen Maiwoche“ wurden 30.000 Menschen abgeschlachtet. Weitere Zehntausende Pariser*innen wurden eingesperrt und später hingerichtet.

Dieses Massaker, das die französische herrschende Klasse ihrer eigenen Bevölkerung im Jahr 1871 antat, war der brutalste und blutigste Terrorakt in der Geschichte Frankreichs – ausgenommen die Massaker der französischen Bourgeoisie in ihren Kolonien, die Millionen Menschen das Leben kostete.

Heute beschwört die herrschende Klasse die „nationale Einheit“ gegen den Terrorismus. Die Unterdrückten sollten ihr Heil in der bedingungslosen Gefolgschaft der bürgerlichen Regierung suchen – „Einheit“ heißt hier einfach Unterordnung. Doch die gleiche Bourgeoise ist bereit, selbst ihre Untertan*innen zu terrorisieren, sobald sie ihre Herrschaft gefährdet sieht.

Den ermordeten Kommunard*innen zu gedenken – genauso wie den Opfern des Anschlags vom 13. November –, heißt, gegen das grausame Regime des französischen Kapitals zu kämpfen. An ihre Stelle wollen wir eine Regierung der Arbeiter*innen nach dem Vorbild der Kommune. Ihr Symbol war die rote Fahne – und das bleibt unser Symbol heute, nicht die „Trikolore“.

Die Kommune konnte niedergeschlagen werden, weil eine revolutionäre Organisation fehlte, um die Heldentaten der Pariser Arbeiter*innen zu einer großen Offensive gegen das Kapital zu bündeln. Als Lehre daraus begannen Arbeiter*innen auf der ganzen Welt, besonders nach der Niederlage der Kommune, mit dem Aufbau revolutionärer Parteien. Angesichts der kapitalistischen Krise und der drohenden Barbarei ist eine solche Partei nötiger als je zuvor.

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