Für einen internationalistischen und klassenkämpferischen Plan: das Europa der Arbeiter*innen und der Massen

11.11.2015, Lesezeit 15 Min.
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// Angesichts der Krise des Europas des Kapitals ist der Plan B eine Sackgasse. // Erklärung der europäischen Gruppen der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale: Clase contra Clase (Spanischer Staat), Revolutionäre Internationalistische Organisation (Deutschland), Genoss*innen der Revolutionär-Kommunistischen Strömung in der Neuen Antikapitalistischen Partei (Frankreich) //

In den vergangenen Monaten zeigte das Europa des Kapitals sein reaktionärstes Gesicht. Zum Einen durch fremdenfeindliche und repressive Maßnahmen angesichts der „Flüchtlingskrise“. Zum Anderen durch die brutalen Zwangsmaßnahmen der Troika gegenüber der griechischen Bevölkerung, durchgesetzt von der Tsipras-Regierung. Es ist offensichtlicher als je zuvor, dass das Europa der Kapitalist*innen keinen progressiven Ausweg für die Millionen Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen und Migrant*innen bieten kann.

Das Wachstum der Xenophobie gegen Migrant*innen und Geflüchtete und die Stärkung der reaktionären nationalstaatlichen Grenzen bereiten neue Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse vor, sei sie „einheimisch“ oder „ausländisch“. In diesem Kontext entstehen angesichts des Debakels des „europäischen Traums“ neue souveränistische Vorschläge von rechts und links. Sie wollen auf verschiedenen Wegen die reaktionäre Utopie der „nationalen Rettung“ wiederherstellen.

Das ist Ausdruck der Spannungen innerhalb der EU. Deutschland strengt sich an, seine Hegemonie in Europa zu bewahren, indem es sich den Rest der Staaten der Gemeinschaft – nicht ohne Schwierigkeiten – unterwirft und in der Halbkolonisierung peripherer Länder wie Griechenland voranschreitet. Die Tendenzen zum Zerfall des Euro als gemeinsamer Währung sind aber noch nicht verschwunden. Die mehr oder weniger verschleierten Konfrontationen Deutschlands mit den USA über die Frage, wer die Kosten der weltweiten Krise bezahlt, und über die Richtung der Politik gegenüber Osteuropa und Russland, verstärken die Spannungen in der EU. Diese Widersprüche zeigen die Grenzen des europäischen imperialistischen Projekts, die sich permanent in neuen Krisen manifestieren.

In diesem Kontext wird es immer dringender, eine internationalistische und klassenkämpferische Perspektive zu erheben. Sie muss den Arbeiter*innen und den Massen eine wirkliche Alternative gegen die kapitalistische Krise, die nationalistische Xenophobie und die sozialen und Umweltkatastrophen, zu denen uns das Kapital verurteilt, geben.

Die fremdenfeindlichen und nationalistischen Tendenzen verschärfen sich angesichts der „Flüchtlingskrise“

Die verzweifelte Durchquerung des Balkans und des Mittelmeers durch hunderttausende Männer, Frauen und Kinder ist Resultat der kapitalistischen Krise und Barbarei. Wir erleben aktuell die schärfste „Flüchtlingskrise“ in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Im Jahr 2015 sind schon mehr als 700.000 Geflüchtete und Migrant*innen durch das Mittelmeer nach Europa gekommen. Laut offiziellen Daten sind mindestens 3.200 dabei gestorben oder werden vermisst, aber die tatsächlichen Zahlen sind sicherlich sehr viel höher. Die verzweifelte Situation der Geflüchteten verschärft sich noch mehr mit dem Einbruch des Winters. Sie schlafen unter prekären Bedingungen in Aufnahmelagern und laufen tausende Kilometer bei rauem Wetter.

Die verschiedenen europäischen Imperialismen und die USA sind mit ihrer Politik der systematischen wirtschaftlichen Plünderung und ihren politischen und militärischen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika die Hauptverantwortlichen für diese Situation. Die Rolle der NATO bei diesen Desastern, die aktuell die größten Militärübungen seit einem Jahrzehnt im Süden Europas durchführt, ist ein weiterer Beweis dafür.

Angesichts dieser Krise ist die Antwort der imperialistischen Regierungen der EU ein Plan der „Aufteilung“ der Geflüchteten, während sie gleichzeitig die reaktionären nationalstaatlichen Grenzen verstärken. Die Zunahme von Grenzkontrollen ist schon ein Fakt in Deutschland, Niederlande, Österreich, Ungarn, Slowakei, Serbien, Kroatien und Ungarn. Dort baute die Regierung von Viktor Orban Stacheldrahtzäune. Deutschland, Großbritannien, Dänemark und andere Länder verschärfen ihre Asylgesetze, um schnellere Abschiebungen durchzusetzen und die Rechte der Geflüchteten zu beschneiden. Gleichzeitig hat die „Flüchtlingskrise“ die nie überwundenen Feindseligkeiten auf dem Balkan wiederbelebt.

Der heuchlerische Diskurs der „europäischen Solidarität“ verschleiert die Rückkehr einer reaktionären Ideologie der Stärkung der nationalen Grenzen gegen die massive Ankunft von Geflüchteten und Migrant*innen. Beispiel davon ist die Errichtung von „hots spots“, wirklichen Konzentrationslagern, in den Grenzstaaten der EU, um die reaktionäre Politik der Einteilung der Migrant*innen nach ihrer Herkunft und ihren Merkmalen zu rationalisieren. Damit werden die „Geflüchteten“ künstlich von den „Wirtschaftsmigrant*innen“ getrennt, welche nicht einreisen dürften. Und diejenigen, die als „Quote“ anerkannt werden, sollen als billige Arbeitskraft genutzt werden.

Das Wachstum der Fremdenfeindlichkeit wird von ultrarechten Formationen angeheizt, wie die Partei „Recht und Gerechtigkeit“, die gerade die Wahlen in Polen gewonnen haben, oder von konservativen Sektoren innerhalb und außerhalb der Regierungskoalition in Deutschland. In diesem Land haben gewaltsame Angriffe rechtsextremer Gruppen auf Geflüchtetenunterkünfte zugenommen und die Pegida-Bewegung organisiert wieder massive Mobilisierungen. In Frankreich sind der Aufstieg der Front National und die immer offenere reaktionäre Wende der UMPS ein weiteres Beispiel.

Die EU hat die türkische Regierung von Erdogan zu ihrem „besten Verbündeten“ auserkoren, um die Welle von Geflüchteten aufzuhalten, damit sie nicht nach Europa kommen. Mit diesem Ziel hat sie eine Finanzspritze von mehr als drei Milliarden Euro für das mörderische Regime Erdogans zugesagt. Ein Regime, welches zur Machterhaltung nicht zögerte, die finstersten Methoden einzusetzen, wie seine Verantwortung für die brutalen Attentate von Ankara und Suruc, die Kriegskampagne gegen das kurdische Volk und die Verfolgung von oppositionellen Gruppen, der Presse und der Linken zeigen.

Ein anderer wichtigster Verbündeter der EU im Nahen Osten ist der terroristische Staat Israel, der aktuell eine neue repressive Offensive gegen die palästinensischen Jugendlichen und Massen durchführt. Der Befehl lautet, angesichts der sogenannten „Intifada der Messer“ zu „schießen, um zu töten“. Die Jugend der „Generation Oslo“ bekämpft die Besatzung und es ist notwendig, die Solidaritätsbewegung mit der palästinensischen Bevölkerung in ganz Europa zu stärken.

Angesichts dieses Szenarios ist es dringend notwendig, einen klassenbewussten Internationalismus wiederzuerschaffen. Dieser muss ein Programm aufstellen, damit die Arbeiter*innenklasse, „einheimisch“ oder „ausländisch“, nicht weiter die Kosten der Krise bezahlt. Dieses Programm muss auch die vom Imperialismus unterdrückten Massen unterstützen. Wir müssen eine politische Alternative aufbauen, die fähig ist, mit ihren eigenen Werkzeugen zu intervenieren, mit materieller und politischer Solidarität gegenüber Geflüchteten, unterdrückten Völkern und der Arbeiter*innenklasse, mit oder ohne Papiere.

Griechenland und der Bankrott des Reformismus

Die Kapitulation Syrizas vor der Troika signalisierte den Bankrott des europäischen Reformismus acht Jahre nach Beginn der kapitalistischen Krise. Die Strategie der „linken“ oder „Anti-Austeritäts“-Regierungen sorgte für eine Regierung der Klassenversöhnung zwischen Syriza und den xenophoben Nationalist*innen von Anel, die sich in wenigen Monaten völlig den Forderungen der Troika ergab. Die Politik der Kanalisierung und Passivisierung der Wut der Arbeiter*innen und der Massen, die sich in unzähligen Generalstreiks als Zeichen des Ungehorsams gegen die vorherigen Regierungen der PASOK oder Nea Dimokratia ausgedrückt hatte, führte zu einer kampflosen politischen Niederlage der griechischen Massen gegen die Gläubiger*innen.

Pablo Iglesias von Podemos und Izquierda Unida im Spanischen Staat, oder der Bloco und die KP in Portugal (die kürzlich zu einer Übereinkunft mit der Sozialdemokratie gekommen sind, um eine neue Mehrheit zu bilden) gehen denselben Weg wie Syriza. Das wird begrüßt von anderen Sektoren der reformistischen Linken wie der Linkspartei in Deutschland und der französischen KP.

Das Debakel des europäischen Neoreformismus ist eine fundamentale Lektion für die Arbeiter*innen und Jugendlichen in ganz Europa. Gescheitert ist die Idee, dass die „europäischen Partner“ unter Druck gesetzt werden könnten, um die Austerität abzumildern. Die Idee eines „sozialen Europas“ ohne die Infragestellung des Europas des Kapitals endete in der vollständigen Kapitulation vor der Erpressung der Troika. Damit scheiterte auch die Strategie des institutionellen Gradualismus, der dazu führte, die Mobilisierung der Arbeiter*innen und der Massen in den Jahren vor dem elektoralen Aufstieg Syrizas politisch zu entwaffnen.

Der linke Souveränismus und ihr „Plan B“ sind eine neue Falle

Die Abspaltung von Syriza, die die „Volkseinheit“ (Laiki Enotita, LAE) gegründet hat, schlägt einen „Anti-Euro“-Reformismus als Alternative zu Tsipras‘ Kapitulation vor, anstatt eine Bilanz ihrer eigenen Fehler zu machen.

Diese neue politische Formation zeigte sich während der Krise völlig machtlos und ohne Gewicht in wichtigen Sektoren der Masenbewegung. Denn ihre Strategie konzentrierte sich auf den Aufbau einer parlamentarischen Linken mit einem reformistischen Programm. Sie verbindet eine radikale Rhetorik mit einem Projekt, welches in letzter Instanz dazu aufruft, die griechische Wirtschaft auf „gesundem“ Fundament wieder aufzubauen, d.h. ein Projekt eines „nationalen Kapitalismus“, der weniger korrupt und verschwenderisch und dafür sozialer ist. Ihr Programm eines „geordneten Austritts aus dem Euro“ (d.h. ein mit den Gläubiger*innen verhandelter Austritt) und der Rückkehr zur Drachme zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft basiert fundamental auf der Entwertung der Währung und dem Verlust der Kaufkraft der Löhne. Das bedeutet ein indirektes Kürzungsprogramm, welches sich von der Austerität unterscheidet, aber nicht weniger pervers ist. Wir Arbeiter*innen können nicht zwischen diesen beiden Instrumenten wählen, mit denen die Ausbeuter*innen sich darauf vorbereiten, die Arbeiter*innen zu köpfen.

Ihr völliges Fehlen von Selbstkritik in Bezug auf die Monate, in denen sie Teil der Regierung mit Minister*innenposten war, und ihr später Bruch (als Tsipras ihnen keine andere Wahl mehr gelassen hatte) erlaubte ihr nicht, sich als eine glaubwürdige Alternative zu Syriza zu präsentieren. LAE betreibt weiterhin eine Strategie der Klassenversöhnung, die schon zur Katastrophe geführt hat.

Auf internationaler Ebene hat diese Formation – gemeinsam mit anderen europäischen Politiker*innen wie Jean-Luc Mélenchon in Frankreich, Stefano Fassina in Italien, Oskar Lafontaine in Deutschland und Jannis Varoufakis in Griechenland (alles vier ehemalige Minister kapitalistischer Regierungen) – Anfang September die Idee eines „Plan B für Europa“ lanciert. Am kommenden 14./15. November wird in Paris ihr erster „Gipfel“ stattfinden. Sie behaupten, dass ihr Plan B keine innerhalb nationaler Grenzen isolierte Vision sei, sondern ein internationalistischer Plan für die europäischen Völker wäre. Doch ihre wirklichen Ziele zeigen den begrenzten und täuschenden Charakter ihres Projekts. Ihre Fürsprecher*innen sprechen nun von „mehreren Plänen B“, da es unter ihnen keine Übereinstimmung über den Austritt aus dem Euro gibt. Wie einige ihrer Fürsprecher*innen sagen: „Alle Szenarien stehen zur Debatte. Sei es der Austritt aus dem Euro oder andere. Zu Beginn wird es darum gehen, welche Veränderungen wir zur Eurozone beitragen können.“

In der Schlussfolgerung zeigt sich, dass sich hinter der Rhetorik des Plan B die alte Leier des Plan A verbirgt … aber mit der Drohung eines zukünftigen Plan B. Diese Leute glauben, dass sie die Troika mit Wortpirouetten verändern können! In ihrer linkesten Variante schlagen die Fürsprecher*innen die Schaffung eines europäischen Sao Paulo-Forums vor, „welches in Lateinamerika elf progressive Regierungen an die Macht gebracht hat“, wie es Jean-Luc Mélenchon formuliert. Also die Regierungen, die dafür verantwortlich sind, die lateinamerikanischen Massenaufstände Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre kanalisiert zu haben, wie das Caracazo, das „Sie sollen alle abhauen“ Argentiniens oder die halbe Insurrektion von El Alto in Bolivien. Sie haben die Autorität des kapitalistischen Staats wieder aufgebaut. Sie haben es auch ermöglicht – nachdem der Zyklus der hohen Rohstoffpreise zu Ende war –, dass in allen Ländern konservative Pro-Kürzungs-Varianten gestärkt wurden. Teilweise haben sie diese sogar selbst durchgesetzt wie in Brasilien oder Venezuela. Der Plan B ist eindeutig eine neue Sackgasse.

Einen neuen klassenbewussten Internationalismus erschaffen

Weder der pro-europäische Reformismus noch die verschiedenen Pläne B, noch der „Anti-Euro“-Reformismus sind eine Alternative für Millionen von Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen. Es ist notwendig, einen internationalistischen, klassenkämpferischen, antikapitalistischen und revolutionären Pol aufzubauen, der einen anderen Plan vorschlagen kann: einen Plan „I“ wie internationalistisch.

Die einzige Art und Weise, die Austerität wirklich zu bekämpfen, damit wir Arbeiter*innen nicht weiterhin die Krise bezahlen müssen, geht mit der Schaffung eines solchen Plans einher. Er muss auf europäischer Ebene (und aufgenommen auf nationaler Ebene) Maßnahmen enthalten, wie: die Verstaatlichung der Banken unter Arbeiter*innenkontrolle, die Enteignung der großen kapitalistischen Gruppen der Industrie, des Handels und des Verkehrs, die Nichtzahlung der Auslandsschulden, die Aufteilung der vorhandenen Arbeit, volle politische und soziale Rechte für Geflüchtete und Migrant*innen, die Rechte der Frauen und der LGBT*-Bewegung und die Verteidigung der Einheit der Arbeiter*innenklasse. Ein Programm, welches die Profite der Kapitalist*innen und Bänker*innen in Frage stellt.

Gegenüber dem Europa des Kapitals, welches nur Elend und soziale Tragödien für die Arbeiter*innen und die Massen anzubieten hat, kämpfen wir für Arbeiter*innenregierungen in der Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

Wir rufen die NPA und LO in Frankreich, Antarsya in Griechenland, die SWP und andere Gruppen der radikalen Linken in Großbritannien sowie alle Strömungen auf dem Kontinent, die sich antikapitalistisch verstehen, eine Alternative dieser Art zu diskutieren und zu organisieren. Dies richtet sich genauso an gewerkschaftlichen Strömungen oder Tendenzen, die sich weigern, zwischen dem Europa des Kapitals oder dem Rückzug auf die engen nationalen Grenzen zu wählen.

Gemeinsam könnten wir sowohl gegenüber dem Europa des Kapitals und der Grenzen als auch gegenüber der Sackgasse des Plan B eine Bewegung für einen Internationalistischen Plan anstoßen. Um dem pro-europäischen Reformismus, dem linken Souveränismus und noch mehr der xenophoben extremen Rechten ihren Einfluss auf die Arbeiter*innen streitig zu machen. Wir stehen vor der Herausforderung, dass sich die antikapitalistische und revolutionäre Linke und die klassenkämpferischen und anti-bürokratischen Gewerkschaftsströmungen als eine glaubwürdige Alternative in den Augen all jener Jugendlichen und Arbeiter*innen aufstellen, die seit dem Beginn der Krise kämpfen und der destruktiven Logik des Kapitals einen Riegel vorschieben wollen.

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