Als Trotzkist in Nordkorea

10.11.2015, Lesezeit 10 Min.
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Unser Autor besuchte als Tourist die Demokratische Volksrepublik Korea. Seine Frage: Wie funktioniert diese Gesellschaft? Ist das Steinzeit? Sekte? Oder gar dadaistisches Kunstwerk? Eine historisch-materialistische Forschungsreise.

Zum 70. Jahrestag der Gründung der Partei der Arbeit Koreas fand eine Militärparade in Pjöngjang statt. Die Bilder gingen rund um die Welt: (angebliche) Nuklearraketen wurden an der Tribüne vorbeigeführt. Der Jungdiktator im schwarzen Mao-Anzug hielt seine erste öffentliche Rede seit zwei Jahren. Tausende Zuschauer*innen wedelten synchron mit bunten Blumensträußen aus Plastik. Dabei waren aber auch – westliche Tourist*innen.

Ich weiß das, weil ich im Frühjahr auch als Tourist in Pjöngjang unterwegs war. Ich kann mir die Szene genau vorstellen: Unter den Besuchern sind viele US-amerikanische Student*innen. Sie hatten die Anweisung, sich respektvoll anzuziehen. Aber mindestens einer trägt eine abgeschnittene Jeans-Hose und hat eine ausgeliehene Krawatte über das T-Shirt gehängt. Alle versuchen, mit ernster Miene auf die Soldaten zu gucken, aber fangen hin und wieder zu lachen an.

Wie kommt das? Jedes Jahr fahren weniger als 5.000 nicht-chinesische Tourist*innen in die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK). Eindrucke aus erster Hand bekommt man praktisch nicht. Endlich Urlaubsfotos, die ausnahmslos jede*r sehen will!

Unter den Touris wird leidenschaftlich um eine Theorie gerungen: Sind die Menschen auf der Straße vielleicht nur Schauspieler*innen? Warum erzählen die staatlichen Reiseführer nichts über die Straflager? Naja. Auf einem Rundgang in Washington D.C. würde man auch nicht als erstes erfahren, wie die schwarze Minderheit massenhaft in Gefängnissen gesperrt und von Polizist*innen erschossen wird. Jedes Land möchte erstmal seine schönen Seiten zeigen. Aber eine Erklärung brauchen wir dennoch: Was ist dieses Land, das als einer der letzten Winkel der Erde nicht den eisernen Gesetzen der Marktwirtschaft unterworfen ist?

Steinzeit?

„Steinzeitkommunismus“ – so lautet der Lieblingsbegriff der bürgerlichen Presse für die DVRK. Aber was soll das heißen? Unter den Jäger*innen und Sammler*innen der Steinzeit gab es keinerlei materiellen Unterschiede zwischen den Menschen. In diesem „Urkommunismus“ waren alle arm – aber auch alle gleich.

In Nordkorea sieht man auf dem Land mitunter sehr primitive Produktionsmittel. Doch selbst der Bauer, der mit Esel und Holzpflug arbeitet, trägt Gummistiefel und kommuniziert per Handy. In der Hauptstadt haben viele auch ein Smartphone.

In der Steinzeit genoss ein Gentilvorsteher „unerzwungne und unbestrittene Achtung“ (in den Worten Friedrich Engels‘). Die Achtung für die Kims – in den Worten unserer Reiseführerin: „die Vergötterung“ – dagegen kommt nicht ganz ohne Zwang zustande.

Also „Steinzeit“ ist das alles nicht. Was für ein System dann? Von außen hat man manchmal den Eindruck, dass die Nordkoreaner*innen vom Export schräger Bilder leben – sie produzieren genug davon.

Sozialismus?

Eine Hammer, eine Sense und eine Pinsel – so die Selbstinszenierung der „Partei der Arbeit Koreas“ in Form eines Riesendenkmals. Das Regime versteht sich als sozialistisch, doch seit den 1990er Jahren sind alle Bilder von Marx oder Lenin aus der Öffentlichkeit verschwunden.

Der Staatsgründer Kim Il-Sung, Großvater des aktuellen Herrschers Kim Jung-Un, überholte den Marxismus-Leninismus mit einer eigenen Ideologie. „Juche“ bedeutet so etwas wie „Eigenständigkeit“ und schreibt vor, dass der bergige Norden der koreanischen Halbinsel wirtschaftlich autark sein müsse.

Sein Sohn, Kim Jong-Il, erweiterte die Theorie um die „Sungun“-Idee: In allem stehe die Armee an erster Stelle. In den zehn Prinzipien, nach denen alle Bürger*innen leben sollten, gibt es kein einziges, das nicht von Gehorsam gegenüber der Staatsführung handelt.

Vom Sozialismus im Sinne eines Marx‘ – also der Selbstbefreiung der Arbeiter*innenklasse – ist das fast so weit entfernt wie von der Steinzeit.

Sekte?

Von einer „Erbmonarchie“ ist auch die Rede. Die Kims herrschen auf ihrer Halbinsel fast so lang wie die Saud-Dynastie auf der arabischen. Gewisse Vergleiche zum Absolutismus drängen sich auf, etwa die allgegenwärtigen Bilder der Herrschenden, denen magische Fähigkeiten attestiert werden. Doch die DVRK ist streng atheistisch und allen ist klar, dass der „ewige Präsident“ nicht etwa vom Himmel herunterblickt, sondern mausetot in seinem gläsernen Sarg liegt.

Ein bisschen erinnert das Land an eine religiöse Sekte – regelmäßig muss ich an Scientology denken. Die penetrant freudigen Touriführer*innen erinnern an Werbevideos für eine besonders aufdringliche Kirche. In Pjöngjang trägt jede*r ein stählernes Lächeln samt der Überzeugung, dass ihre*seine miserablen Lebensbedingungen zu den besten der Welt gehören.

Oder ist es was anderes? Vermutlich hat Kim Jung-un einen Teil seiner Schulzeit auf einem Internat an der Schweiz verbracht. Dieses Jahr trat die slowenische Provokationsband „Laibach“, die gern mit Nazi-Ästhetik spielt, in Nordkorea auf. Über diese überraschende Musiktour rätselte die halbe Welt. Vielleicht haben die Nordkoreaner den Humor von Laibach einfach nicht verstanden? Schließlich haben nur wenige hundert Menschen im Land Zugang zu Wikipedia. Aber was ist, wenn der junge Diktator die dadaistische Kunst sehr wohl fördern wollte? Könnte Nordkorea ein dadaistisches Gesamtkunstwerk sein?

Nein. Vermutlich brauchen wir noch eine andere Theorie.

Planwirtschaft

Fangen wir, ganz im Sinne des historischen Materialismus, mit den Produktionsverhältnissen an.

Die Volksrepublik ist, im Großen und Ganzen, eine Planwirtschaft. Die meisten Menschen arbeiten für den Staat, und ein Großteil der Produkte wird nicht auf dem Markt getauscht, sondern über staatliche Stellen verteilt. Diese Planung ermöglichte das „koreanische Wirtschaftswunder“ nach dem Krieg – mit dem Begriff war in der Tat die Industrialisierung des Nordens gemeint. Erst 1975 hat der lange Zeit bäuerlich geprägte Süden den Norden wirtschaftlich überholt.

Dennoch läuft die wirtschaftliche Planung nicht, wie Marx oder Engels vorgesehen haben, durch die demokratische Entscheidung der Produzent*innen. „Kim Jung-Un Looking At Things“ lautet der Titel einer populären Website mit Bildern des jungen Herrschers, der pausenlos Fabriken und Baustellen besucht. Diese „Vor-Ort-Anleitungen“ standen schon bei Großvater und Vater tagtäglich auf dem Programm. Ein Kim kann einen Befehl erteilen, der die Produktion sofort umkrempelt. Dabei ist Widerspruch nicht vorgesehen.

Wenn Kim Jung-un zum Beispiel entscheidet, dass die Hauptstadt einen erstklassigen Wasserpark benötigt, wird erstmal die Kraft der gesamten Wirtschaft darauf gerichtet. Absurdeste Ausmaße erreichte das, als Vater Kim Jong-Il hunderttausende Menschen für seine wochenlangen Massentanzveranstaltungen abkommandierte.

Der „Marschall“ lebt zweifelsohne gemütlich, aber nicht nur er genießt materielle Vorteile. Bei der Ankunft am Flughafen hat man noch ein Beispiel vor sich: Viele der nordkoreanischen Funktionär*innen, die aus dem Ausland kommen, holen ihre Golfschläger vom Gepäckband ab. Soziale Ungleichheit hier ist lange nicht so gravierend wie bei uns im Kapitalismus, und dennoch können die Parteifunktionär*innen Auto fahren und Restaurants besuchen, was für die meisten Menschen unvorstellbar wäre.

Restauration

Die koreanische Planwirtschaft hat länger ausgehalten als in Russland oder China. Doch wie seit den 90er Jahren auf Kuba, werden auch in Pjöngjang erste Nischen für die Marktwirtschaft geöffnet. So können Bäuerinnen*Bauern in den staatlichen oder genossenschaftlichen Landwirtschaftsbetrieben gewisse Felder für sich selbst bestellen und die Erträge auf Märkten verkaufen. Dank chinesischer Importe gibt es in vielen Wohnungen Solarpanelen, während Kinder auch Mickey Mouse tragen.

Der Tourismus soll Devisen ins Land bringen – wobei der Andrang sich im Vergleich zu den karibischen Stränden in Grenzen hält. Der jüngste Kim hat 2014 ein großes Skihotel eröffnet und träumt von zwei Millionen ausländischer Touristen im Jahr.

Wie in China seit den 90er Jahren gibt es auch Sonderwirtschaftszonen, in denen ausländische Unternehmen produzieren können. Die Löhne gehen an den Staat, der einen kleinen Teil an die Beschäftigten weitergibt. Eine gibt es in Rason an der Grenze zu Russland, eine andere in Kaesong nahe der Demilitarisierten Zone zu Südkorea. Tourist*innen können die Anlagen in Rason besuchen, unter einer Bedingung: keine Fotos der Marken! Verschiedene multinationale Unternehmen würden ungern zugeben, dass ihre Textilien in der Volksrepublik genäht werden. Genauso exportiert der Staat 50.000 oder mehr Arbeitskräfte nach China, Russland oder sogar Katar – auch das Gros ihrer Löhne geht direkt an den Staat.

Doch es mangelt an kapitalistischen Investoren, die an einer Entwicklung des Kapitalismus im Norden mitwirken wollen. So ist das Kim-Regime auf bestimmte Marktnischen angewiesen, die von anderen Produzent*innen vermieden werden. Nach nicht zu bestätigenden Meldungen hat sich die hoch entwickelte chemische Industrie, die keine Abnehmer für ihre Produkte findet, auf Amphetamine spezialisiert. Der komplette Markt für Speed in China soll angeblich von Korea aus beliefert werden – ein bisschen wie die Fernsehserie „Breaking Bad“ auf der Ebene eines ganzen Landes! Genauso tauchen immer wieder gefälschte US-Dollars höchster Qualität in der Region auf, die vermutlich aus der DVRK kommen.

Degeneriert

Also in der Touristengruppe ist die Frage immer noch offen: Was ist Nordkorea? Es ist eine Planwirtschaft ohne jegliche Demokratie; alle Entscheidungen werden von einer privilegierten Kaste getroffen; an der Spitze dieser Kaste steht ein unfehlbarer Führer. Man könnte also sagen: Nordkorea ist Stalinismus.

Ja, aber das wirft nur die Frage auf, was Stalinismus ist.

Eine demokratische Planwirtschaft erfordert ein gewisses Niveau an Produktivität: Nur Arbeiter*innen, die nicht gerade dabei sind zu verhungern, können aktiv an der Lenkung der Gesellschaft in Form von Räten teilnehmen. Doch im völlig zerbombten Korea nach dem Krieg – genauso wie in Russland nach dem Bürgerkrieg – war barbarische Armut die Norm. In dieser Situation konnte sich eine privilegierte Bürokratie herausbilden. Marx hatte das bereits 1845 indirekt vorausgesagt: Eine Revolution ohne die Entwicklung der Produktivkräfte könnte nicht siegen, denn „mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte“.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki, der eine führende Figur der Oktoberrevolution war, bevor er zum Kritiker der Bürokratie wurde, beschrieb diese Situation mit einem Beispiel:

„Grundlage des bürokratischen Kommandos ist die Armut der Gesellschaft an Verbrauchsgegenständen mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle. Wenn genug Waren im Laden sind, können die Käufer kommen, wann sie wollen. Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muss ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie. Sie weiß, wem sie zu geben, und wer zu warten hat.“

Ergänzen könnte man: Wenn die Schlange ganz besonders lang wird, braucht man wohl einen Kim.

Trotzki nannte dieses System einen „degenerierten Arbeiterstaat“. Sein Programm dagegen war eine „politische Revolution“: Das verstaatlichte Eigentum an Produktionsmitteln müsse verteidigt, aber die führende Kaste gestürzt werden.

So arm die Menschen in Nordkorea heute sind, kann man auch nicht sagen, dass ihre Lage durch die Etablierung eines US-freundlichen Regimes unbedingt besser werden würde. Denn kapitalistischer Markt und demokratische Rechte gehen nicht immer Hand in Hand: Bis heute im relativ reichen Südkorea herrschen diktatorische Gesetze: Die Tochter des letzten Militärdiktators sitzt im Präsidentenpalast, und wer in den sozialen Medien nordkoreanisches Bier lobt, kann verhaftet werden.

Tourist*innen nach Nordkorea dürfen Bücher mitbringen, mit nur einer Ausnahme: die Bibel und anderer religiöser Schriften. Das liegt daran, dass Missionar*innen von christlichen Sekten permanent ins Land eindringen. Also Schriften von Trotzki, in denen er zum Sturz der Bürokratie aufruft, wären theoretisch legale Geschenke für unsere koreanischen Gastgeber*innen. Nach diesem ersten Aufenthalt möchte ich unbedingt wieder in die DVRK, die manchmal wie eine Fernsehshow aus den 50ern aussieht, aber sich dann doch schnell verändern kann. Nächstes Mal habe ich Trotzki im Gepäck.

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